Maigret und das Verbrechen in Holland
entsetzliches, herzzerreißendes Schluc h zen. Der Junge packte Maigret mit seinen weißen b e handschuhten Händen, die wie bei einem Krampf zi t terten, an den Mantelaufschlägen:
»Es ist nicht wahr! Nicht wahr!« wiederholte er mi n destens zehnmal. »Nein! Sie nicht verstehen! Nicht … Nein! Nicht wahr!«
Sie kamen wieder in das milchige Strahlenbündel des Leuchtturms. Das Licht blendete sie, ließ sie gestochen scharf erscheinen.
»Wo waren Sie?«
»Dort.«
»Dort« war das Haus der Popingas und der Kanal, den er wohl immer auf den Baumstämmen überquerte.
Dies war ein entscheidendes Detail. Popinga war um fünf Minuten vor Mitternacht gestorben, Cornelius um fünf Minuten nach Mitternacht an Bord zurückgekehrt.
Um auf dem normalen Weg durch die Stadt zurüc k zulaufen, brauchte man eine halbe Stunde. Aber nur sechs oder sieben Minuten, wenn man den Kanal so wie er überquerte und den Umweg vermied!
Maigret ging schwerfällig und langsam neben dem jungen Mann her, der wie Espenlaub zitterte. In dem Augenblick, als der Esel von neuem zu schreien anfing, zuckte Cornelius zusammen und zitterte von Kopf bis Fuß, als ob er, so schnell er konnte, weglaufen wollte.
»Lieben Sie Beetje?«
Trotziges Schweigen.
»Haben Sie gesehen, wie sie wieder zurückkehrte, nachdem Ihr Lehrer sie nach Hause gebracht hatte?«
»Es ist nicht wahr! Nicht wahr … nicht wahr …«
Maigret war drauf und dran, ihn mit einem ordentl i chen Stoß in die Rippen zur Vernunft zu bringen.
Und doch schaute er ihn geduldig, beinahe liebevoll an.
»Sehen Sie Beetje jeden Tag?«
Wieder Schweigen.
»Wann müssen Sie wieder auf dem Schulschiff sein?«
»Um zehn Uhr, außer bei Urlaub. Wenn ich zu Mo n sieur Popinga ging, ich können …«
»Später zurückkommen! Also heute abend nicht?«
Sie standen am Ufer des Kanals, genau an der Stelle, wo Cornelius übergesetzt hatte. Maigret ging ganz selbstverständlich auf die Baumstämme zu, setzte einen Fuß darauf und wäre beinahe ins Wasser gefallen, weil er es nicht gewohnt war und das Holz unter seiner Sohle wegrollte.
Cornelius zögerte.
»Los! Es ist gleich zehn Uhr!«
Der Junge staunte. Er hatte wohl erwartet, er würde sein Schulschiff nie Wiedersehen, verhaftet werden und ins Gefängnis kommen!
Und jetzt brachte ihn der entsetzliche Kommissar zum Schiff zurück, nahm wie er einen Anlauf, um über die zwei Meter in der Mitte des Kanals zu springen. Sie spritzten sich gegenseitig an. Am anderen Ufer blieb Maigret stehen, um seine Hose abzuputzen.
»Wo sind wir hier?«
Auf dieser Seite war er noch nicht gewesen. Es war ein großes freies Gelände zwischen dem Amsteldiep und dem neuen, breiten und tiefen Kanal, auf dem auch Hochse e schiffe fahren konnten.
Als er sich umdrehte, sah der Kommissar ein erleuc h tetes Fenster im ersten Stock bei den Popingas. Hinter dem Vorhang bewegte sich eine Gestalt. Es war Any im Arbeitszimmer von Popinga.
Aber er konnte nicht erraten, womit sich die junge Anwältin beschäftigte.
Cornelius hatte sich etwas beruhigt.
»Ich schwöre …«, begann er.
»Nein!«
Das entwaffnete ihn. Er schaute seinen Begleiter so verblüfft an, daß dieser ihm auf die Schulter klopfte und sagte:
»Man soll nie etwas schwören! Vor allem nicht in I h rer Lage. Hätten Sie Beetje geheiratet?«
»Ja! … Ja!«
»Wäre ihr Vater einverstanden gewesen?«
Schweigen. Gesenkter Kopf. Cornelius ging weiter, vorbei an den alten, aufs Trockene gezogenen Schiffen, die das Gelände versperrten.
Man sah die weite Fläche des Emskanals. An einer Biegung ragte ein großes schwarzweißes Schiff auf, de s sen Luken alle erleuchtet waren. Ein sehr hoher Bug. Ein Mast und seine Rahen.
Es war ein altes Kriegsschiff der holländischen Mar i ne, ein hundert Jahre altes Schiff, das da vor Anker lag und das, da es nicht mehr seetüchtig war, die Kadetten der Marineschule aufnahm.
Rings herum dunkle Gestalten, brennende Zigare t ten. Aus dem Aufenthaltsraum kamen Klavierklänge.
Als plötzlich eine laute Glocke ertönte, drängten sich alle Gestalten vor der Gangway auf dem Kai, während in der Ferne auf dem Weg von der Stadt noch vier Nac h zügler angerannt kamen.
Wie bei einem Schulbeginn, obwohl alle diese Leute zwischen sechzehn und zweiundzwanzig Jahren die Un i form der Marineoffiziere trugen, weiße Handschuhe und die steife Mütze mit Goldborten.
Ein alter Maat lehnte an der Reling und rauchte seine Pfeife, während er zuschaute, wie sie nacheinander an ihm
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