Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
Schleusentore wurden geöffnet und das Schiff fuhr in den Kanal ein, während ein anderes, aus Caen kommendes seinen Platz einnahm, um später Kurs auf das offene Meer zu nehmen.
Es herrschte immer noch völlige Windstille. Die Leute sahen den beiden Männern nach. Friedlich betrachteten die englischen Seeleute von ihrem Schiff herab die Menschenmenge, während sie gleichzeitig ihren Dienst versahen.
»Herr Bürgermeister, was halten Sie von Julie Legrand?«
Monsieur Grandmaison brummte zögernd:
»Eine dumme Göre, der es den Kopf verdreht hat, weil Joris sie zu rücksichtsvoll behandelt hat … Sie glaubt, sie … Ach, ich weiß nicht! Auf jeden Fall glaubt sie, sie wäre was besseres.«
»Und ihr Bruder?«
»Den habe ich noch nie gesehen. Man hat mir allerdings gesagt, daß er ein Lump ist.«
Sie ließen die Schleuse hinter sich, erreichten das Gartentor, vor dem immer noch ein paar Kinder spielten, die auf ein interessantes Schauspiel warteten.
»Woran ist er gestorben?«
»Strychnin!«
Maigret gab sich von seiner stursten Seite. Beide Hände in den Taschen, die Pfeife zwischen den Zähnen, stapfte er mit wuchtigen Schritten weiter. Und die Pfeife, die er rauchte, stand in Proportion zu seinem breiten Gesicht: Sie war mit fast einem viertel Päckchen Tabak gefüllt.
Die weiße Katze, die auf der sonnenwarmen Mauer ausgestreckt lag, verschwand mit einem Satz, als sich die beiden Männer näherten.
»Gehen Sie nicht hinein?« fragte der Bürgermeister erstaunt, als Maigret ohne Grund stehenblieb.
»Augenblick noch! Was meinen Sie, war Julie die Geliebte des Kapitäns?«
»Davon weiß ich nichts«, brummte Monsieur Grandmaison ungeduldig.
»Kamen Sie oft in das Haus?«
»Nie. Joris war einer meiner Angestellten. Und in diesem Fall …«
Sein Lächeln sollte ein Sultanslächeln sein.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, wollen wir die Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen. Ich erwarte Gäste zum Mittagessen.«
»Sie sind verheiratet?«
Maigret, die Hand auf der Klinke des Gartentors, verfolgte mit starrköpfiger Miene eine bestimmte Idee.
Monsieur Grandmaison musterte ihn von oben bis unten, die ganzen einhundertfünfundachtzig Zentimeter, die er maß. Und der Kommissar stellte fest, daß der Bürgermeister zwar nicht direkt schielte, aber doch einen leichten Silberblick hatte.
»Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß Sie es bereuen könnten, wenn Sie weiter in diesem Ton mit mir sprechen … Zeigen Sie mir, was Sie mir zu zeigen haben …«
Und damit stieß er nun selbst das Gartentor auf und ging zum Eingang. Der Dorfpolizist, der dort Wache stand, trat eilig zur Seite.
In die Küche führte eine Glastür. Gleich auf den ersten Blick stellte Maigret fest, daß etwas nicht stimmte: Wohl sah er die beiden Frauen, nicht aber Julie. Er ging hinein und fragte:
»Wo ist sie?«
»Sie ist in ihr Zimmer hinauf … Sie hat sich eingeschlossen … Sie wollte nicht wieder runterkommen.«
»Einfach so? Ganz plötzlich?«
Die Frau des Leuchtturmwärters erklärte:
»Es ging ihr besser. Sie weinte zwar noch, aber nur leise, und sie erzählte … Ich bat sie, etwas zu essen, und sie ging an den Wandschrank und öffnete ihn.«
»Und?«
»Ich weiß es nicht … Sie schien entsetzt … Sie rannte zur Treppe, und man hörte, wie sie ihre Zimmertür von innen abschloß.«
In dem Schrank befanden sich Geschirr, ein Korb mit ein paar Äpfeln, eine Schüssel mit eingelegten Heringen und zwei schmutzige Platten mit Fettspuren, die wahrscheinlich von Fleischresten stammten.
»Wann paßt es Ihnen endlich? Ich warte immer noch!« drängte der Bürgermeister, der im Flur geblieben war, voller Ungeduld. »Es ist halb zwölf … Ich denke, das Tun und Treiben dieses Mädchens …«
Maigret schloß den Wandschrank ab, steckte den Schlüssel in seine Tasche und ging mit wuchtigen Schritten zur Treppe.
3
Der Vorratsschrank
M
achen Sie auf, Julie!«
Keine Antwort, nur das Geräusch eines sich auf dem Bett wälzenden Körpers.
»Machen Sie auf!«
Nichts. Nun stieß Maigret mit der Schulter gegen die Türfüllung, und die Schrauben, die das Schloß hielten, sprangen heraus.
»Warum haben Sie nicht geöffnet?«
Sie weinte nicht. Sie war nicht erregt. Im Gegenteil, sie saß mit angezogenen Beinen auf dem Bett und starrte vor sich hin. Doch als der Kommissar näher an das Bett herantrat, sprang sie herunter und lief zur Tür.
»Lassen Sie mich!« schrie sie.
»Dann geben Sie mir den Zettel,
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