Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
Julie!«
»Welchen Zettel?«
Sie war aggressiv, glaubte, dadurch besser verbergen zu können, daß sie log.
»Erlaubte der Kapitän, daß Ihr Bruder Sie besuchen kam?«
Keine Antwort.
»Das heißt also, daß er es nicht erlaubte. Ihr Bruder kam trotzdem. Es sieht so aus, als sei er in der Nacht, in der Joris verschwand, hier gewesen.«
Ein eisiger, fast gehässiger Blick.
»Die ›Saint-Michel‹ war im Hafen. Also war es ganz normal, daß er Sie besuchte. Eine Frage: Wenn er kommt, dann ißt er gewöhnlich etwas, nicht wahr?«
»Sie Bestie!« brummte sie zwischen den Zähnen hervor, während er fortfuhr:
»Er ist hier eingedrungen, während Sie in Paris waren. Er hat Sie nicht angetroffen und Ihnen deshalb eine Nachricht hinterlassen. Um sicher zu gehen, daß Sie sie finden und nicht jemand anderes, hat er den Zettel in den Vorratsschrank gelegt … Geben Sie ihn mir.«
»Ich habe ihn nicht mehr.«
Maigret sah auf den leeren Kamin, auf das geschlossene Fenster.
»Geben Sie ihn mir!«
Sie war dickköpfig, benahm sich wie ein jähzorniges Kind, nicht wie eine intelligente Frau. Das ging so weit, daß der Kommissar, als er einen ihrer Blicke auffing, fast liebevoll brummte:
»Dummes Ding!«
Der Zettel lag ganz einfach unter dem Kopfkissen, dort wo Julie eben noch gesessen hatte. Aber anstatt nun aufzugeben, griff das eigensinnige Dienstmädchen von neuem an, versuchte, dem Kommissar, den ihr Zorn amüsierte, das Papier zu entreißen.
»Genug jetzt?« sagte er drohend und packte sie an den Händen.
Und er las die paar Zeilen, die in unmöglicher Schrift dahingekritzelt waren und voller Fehler steckten.
Wenn du mit deinem Herrn zurückkommst, dann paß gut auf ihn auf, denn es gibt schlechte Leute, die ihm Böses wollen. Ich komme in zwei oder drei Tagen mit dem Schiff zurück. Die Koteletts brauchst du nicht zu suchen, ich habe sie gegessen … dein treuer Bruder.
Maigret senkte den Kopf. Er war so verwirrt, daß er gar nicht mehr auf das Mädchen achtete. Eine Viertelstunde später berichtete ihm der Hafenmeister, daß die ›Saint-Michel‹ in Fécamp sein und in der nächsten Nacht eintreffen müßte, wenn der Wind weiter aus Nordwest wehte.
»Kennen Sie die Position aller Schiffe?«
Und Maigret, immer noch verwirrt, blickte auf das funkelnde Meer hinaus, auf dem man weit draußen eine einzige Rauchfahne aufsteigen sah.
»Die Häfen halten Verbindung untereinander. Sehen Sie, hier ist die Liste der Schiffe, die heute erwartet werden.«
Er zeigte dem Kommissar eine schwarze Tafel, die an der Mauer des Hafenbüros angebracht war und auf der mit Kreide Namen geschrieben waren.
»Haben Sie etwas entdeckt? Geben Sie nicht zuviel auf das, was man erzählt! Selbst angesehene Leute … Wenn Sie wüßten, wie viele kleine Eifersüchteleien es hier gibt!«
Monsieur Delcourt winkte dem Kapitän eines ausfahrenden Frachters zu und seufzte mit einem Blick zur Kneipe hin:
»Sie werden sehen!«
Um drei Uhr beendigten die Vertreter der Staatsanwaltschaft ihre Tatortbesichtigung und die etwa zehn Männer verließen Joris’ Haus, stießen das kleine grüne Gartentor auf und begaben sich zu den vier wartenden Autos, die von Neugierigen umringt waren.
»Hier muß es ja Unmengen von Enten geben«, sagte der Assessor zu Monsieur Grandmaison, während er seine Augen durch das Gelände schweifen ließ.
»Es ist ein schlechtes Jahr. Aber letztes Jahr …«
Er eilte zu dem ersten, gerade startenden Wagen.
»Sie kommen auf einen Augenblick bei mir vorbei, nicht wahr? Meine Frau erwartet uns.«
Maigret kam als letzter heran, und der Bürgermeister bat ihn in gerade so verbindlichem Ton, daß es höflich klang:
»Steigen Sie ein. Sie müssen natürlich auch dabeisein.«
In dem kleinen Haus des Kapitäns blieben nur Julie und zwei Frauen und der Dorfpolizist, der vor der Tür auf den Leichenwagen wartete, der den Toten nach Caen bringen würde.
Schon in den Autos verhielt man sich wie bei manchen Rückfahrten von einer Beerdigung, die für lebenslustige Menschen oft sehr heiter enden. Während Maigret unbequem auf dem Klappsitz saß, erklärte der Bürgermeister dem Assessor:
»Wenn es nur nach mir ginge, würde ich das ganze Jahr über hier leben. Aber meine Frau mag das Land nicht so sehr. Sie mag es so wenig, daß wir die meiste Zeit in unserem Haus in Caen leben. Meine Frau ist gerade erst aus Juan-les-Pins zurückgekommen, wo sie mit den Kindern einen Monat verbracht hat …«
»Wie alt ist der
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