Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
sehen.
»Hast du ihn nicht wiedergefunden?«
»Ich glaube, es lohnt sich nicht einmal zu suchen. Man müßte eine Treibjagd veranstalten, um einen Mann zu fassen, der sich in den Dünen versteckt.«
Maigret hatte seinen Mantel bis zum Hals zugeknöpft, vergrub die Hände in den Taschen, preßte die Zähne auf das Mundstück seiner Pfeife.
»Siehst du diesen Spalt in den Vorhängen?« fragte er auf das Fenster deutend. »Und siehst du die kleine Mauer direkt gegenüber? Nun, ich glaube, wenn du erst mal auf der Mauer stehst, dann kannst du auch durch den Spalt hineinsehen.«
Lucas war fast ebenso kräftig gebaut wie Maigret, aber er war ein bißchen kleiner. Mit einem Blick in beide Richtungen der Straße vergewisserte er sich, daß niemand kam, und erklomm dann mit einem Seufzer die Mauer.
Mit der Nacht war Wind aufgekommen, ein Wind vom offenen Meer, der von Minute zu Minute stärker wurde und die Bäume schüttelte.
»Siehst du etwas?«
»Ich bin nicht hoch genug. Es fehlen fünfzehn oder zwanzig Zentimeter.«
Ohne ein Wort ging Maigret zu einem Steinhaufen am Straßenrand und brachte ein paar von den Steinen.
»Versuch es.«
»Ich sehe das Ende des Tisches, aber noch keine Leute.«
Und der Kommissar brachte weitere Steine herbei.
»Jetzt klappt es. Sie spielen Dame. Das Mädchen bringt ihnen dampfende Gläser, Grog, nehme ich an.«
»Bleib da!«
Maigret begann die Straße auf und ab zu gehen. Hundert Meter weiter war die Seemannskneipe, dahinter der Hafen. Ein Bäckerauto fuhr vorüber. Fast hätte der Kommissar es angehalten, um sich zu vergewissern, daß sich niemand darin versteckte, aber dann zuckte er nur die Schultern.
Es gibt Dinge, die sehr einfach aussehen, praktisch aber unmöglich durchzuführen sind. Zum Beispiel die Suche nach dem Mann, der sich hinter der Villa des Bürgermeisters plötzlich in Luft aufgelöst hatte. Wo sollte man ihn suchen? In den Dünen, am Strand, im Hafen, im Dorf? Alle Straßen sperren? Zwanzig Polizisten wären dafür nicht genug, und wenn er intelligent war, würde es ihm trotzdem gelingen, hindurchzuschlüpfen.
Man wußte ja weder wer er war noch, wie er aussah!
Der Kommissar kam zu der Mauer zurück, auf der Lucas in unbequemer Haltung ausharrte.
»Was tun sie?«
»Sie spielen immer noch.«
»Reden sie miteinander?«
»Da macht keiner den Mund auf. Der Häftling hat beide Ellbogen auf dem Tisch und ist schon bei seinem dritten Grog.«
Eine Viertelstunde war vergangen, als man von der anderen Seite der Straße her ein Läuten hörte. Lucas rief den Kommissar.
»Ein Telefonanruf! Der Bürgermeister will aufstehen, aber Louis hebt den Hörer schon ab.«
Was er sagte, war nicht zu hören, aber eines war gewiß: Grand-Louis schien zufrieden.
»Hat er aufgelegt?«
»Sie spielen weiter.«
»Bleib da!«
Maigret entfernte sich in Richtung Seemannskneipe. Wie jeden Abend saßen einige beim Kartenspiel, und sie wollten Maigret zu einem Glas einladen.
»Jetzt nicht. Haben Sie hier ein Telefon, Mademoiselle?«
Der Apparat war in der Küche an der Wand befestigt. Eine alte Frau nahm Fische aus.
»Hallo! Das Postamt von Ouistreham? Polizei! Würden Sie mir bitte sagen, wer soeben die Nummer des Bürgermeisters angewählt hat?«
»Das war Caen, Monsieur.«
»Welche Nummer?«
»122, das ist das Café de la Gare.«
»Ich danke Ihnen.«
Einen Augenblick lang stand er mitten in der Kneipe, ohne um sich herum etwas wahrzunehmen.
»Von hier bis Caen sind es zwölf Kilometer«, sagte er plötzlich vor sich hin.
»Dreizehn«, berichtigte ihn Kapitän Delcourt, der gerade eingetreten war. »Wie geht’s, Kommissar?«
Maigret hörte ihn nicht.
»… wäre eine knappe halbe Stunde mit dem Fahrrad …«
Ihm war eingefallen, daß die Schleusenarbeiter, die fast alle im Dorf wohnten, mit dem Fahrrad zum Hafen kamen, und daß die Räder den ganzen Tag gegenüber der Kneipe standen.
»Würden Sie bitte nachsehen, ob keines der Fahrräder fehlt?«
Und von nun an lief es wie ein Räderwerk. In Maigrets arbeitendem Gehirn griffen die Ereignisse wie Zahnräder ineinander.
»Verdammt! Mein Rad ist weg!«
Maigret wunderte sich nicht darüber, erkundigte sich auch nicht näher, sondern ging zurück in die Küche und hob den Telefonhörer ab.
»Geben Sie mir die Polizei in Caen. Ja, danke … Hallo! Polizeihauptstelle? … Hier spricht Kommissar Maigret von der Kripo. Fährt heute noch ein Zug nach Paris? … Wie bitte? … Nicht vor elf Uhr? … Nein! Hören Sie!
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