Maigret und der geheimnisvolle Kapitän
Jagd mit … Aber er tat es nur, um Gesellschaft zu haben.«
»Haben Sie noch keinen Brief vom Notar bekommen?«
»Doch! Er teilt mir mit, daß ich Universalerbin bin … Was heißt das eigentlich genau? Werde ich wirklich das Haus erben?«
»Und dreihunderttausend Francs dazu, jawohl!«
Sie zuckte nicht zusammen, sondern aß ruhig weiter, bis sie schließlich den Kopf schüttelte und murmelte:
»Das kann nicht sein … es ist unsinnig! Ich habe Ihnen doch gesagt: Ich weiß genau, daß der Kapitän niemals dreihunderttausend Francs besessen hat.«
»Wo war sein Platz? Aß er hier in der Küche?«
»Wo Sie sitzen, in dem Korbstuhl.«
»Aßen Sie zusammen?«
»Ja. Nur stand ich ab und zu auf, um nach dem Essen zu sehen und die Schüsseln zu holen. Er las gern seine Zeitung beim Essen. Manchmal las er laut einen Artikel vor.«
Maigret wollte nicht sentimental werden. Und dennoch verwirrte ihn diese friedliche Atmosphäre. Die Wanduhr schien hier langsamer zu ticken als an jedem anderen Ort. Das Licht spiegelte sich auf dem Kupferpendel. Und dieser süße Duft von Schokolade! Und der Korbsessel, in dem es bei der geringsten Bewegung Maigrets vertraut knackte! So mußte es gewesen sein, wenn Kapitän Joris zu Lebzeiten hier gesessen hatte.
Julie fürchtete sich allein im Haus. Und dennoch zögerte sie, es zu verlassen. Und er begriff, daß etwas sie in der vertrauten Umgebung zurückhielt.
Sie stand auf und ging zur Tür. Er sah ihr nach. Sie ließ die weiße Katze herein, die zu einem mit Milch gefüllten Teller vor dem Herd lief.
»Arme Minou!« sagte sie. »Ihr Herrchen mochte sie gern. Nach dem Abendbrot sprang sie ihm immer auf den Schoß und rührte sich nicht mehr, bis Schlafenszeit war …«
Es war eine so intensive Ruhe, wie vor einem Sturm. Eine wohlige, schwermütige Ruhe!
»Haben Sie mir wirklich nichts zu sagen, Julie?«
Sie blickte ihn fragend an.
»Ich glaube, der Wahrheit fast auf der Spur zu sein. Ein Wort von Ihnen kann mir helfen. Deshalb frage ich Sie, ob Sie nichts wissen, was Sie mir anvertrauen möchten.«
»Ich schwöre Ihnen …«
»Nichts über Kapitän Joris?«
»Nichts!«
»Über Ihren Bruder?«
»Nichts! Ich schwöre Ihnen …«
»Nichts über eine Ihnen unbekannte Person, die vielleicht hier gewesen ist?«
»Ich verstehe nicht …«
Sie löffelte weiter von ihrem viel zu süßen Brei, dessen Anblick allein Maigret schon anwiderte.
»Nun, dann will ich jetzt gehen.«
Sie wurde traurig. Die Einsamkeit würde wiederkommen. Eine Frage brannte ihr auf den Lippen.
»Sagen Sie, wegen der Beerdigung … Kann man da so lange warten? Ein Toter, das …«
»Er liegt im Kühlhaus«, sagte er verlegen.
Ein kalter Schauer durchfuhr sie.
»Bist du da, Lucas?«
Es war so dunkel, daß man nichts mehr sah. Das Heulen des Sturmes übertönte alle anderen Geräusche. Im Hafen standen die Männer an ihren Posten, warteten auf die Einfahrt eines Schiffes aus Glasgow, dessen Sirene zwischen den Molen ertönte. Es hatte die Hafeneinfahrt verpaßt.
»Hier bin ich!«
»Was tun sie?«
»Sie essen. Danach wäre mir jetzt auch. Krabben, Muscheln, Omelett und etwas, das nach kaltem Kalbsbraten aussieht.«
»Sitzen sie am gleichen Tisch?«
»Ja. Grand-Louis immer noch mit beiden Ellbogen auf dem Tisch.«
»Reden sie miteinander?«
»Wenig. Ab und zu bewegen sie die Lippen, aber sie haben sich bestimmt nichts Wichtiges zu sagen.«
»Trinken sie?«
»Louis, ja. Zwei Flaschen Wein stehen auf dem Tisch. Alte Flaschen! Der Bürgermeister schenkt seinem Gast ständig nach.«
»So als wollte er ihn betrunken machen?«
»So ist es. Das Dienstmädchen zieht ein komisches Gesicht. Wenn sie hinter dem Matrosen vorbei muß, macht sie einen großen Bogen, um ihn ja nicht zu berühren.«
»Kein Anruf mehr?«
»Nein. Jetzt schneuzt sich Louis in seine Serviette und steht auf. Warten Sie. Er holt eine Zigarre. Die Kiste steht auf dem Kamin. Er hält sie dem Bürgermeister hin, aber der lehnt mit einem Kopfschütteln ab. Das Mädchen bringt den Käse.«
Und mit klagender Stimme fügte Inspektor Lucas hinzu:
»Wenn ich mich doch bloß hinsetzen könnte! Ich habe eiskalte Füße! Ich traue mich nicht zu bewegen aus lauter Angst, von der Mauer zu fallen!«
Doch das reichte nicht aus, um Maigrets Mitleid zu erregen, der selbst schon hundertmal in ähnlichen Situationen gewesen war.
»Ich werde dir etwas zu essen und zu trinken bringen.«
Im Hôtel de L’Univers war sein Tisch gedeckt. Aber
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