Maigret und der gelbe Hund
dann an die alte Wache auf der ›Pointe du Cabélou‹ erinnerte … Wir sind gleich da … Sehen Sie dieses viereckige Gebäude aus Quadersteinen auf dem letzten Felsvorsprung? Es stammt aus derselben Epoche wie die Befestigungswälle der Altstadt … Kommen Sie hier herüber. Passen Sie auf die Abfälle auf … Vor langer Zeit lebte ein Wachtposten hier, so eine Art Leuchtturmwärter, dessen Aufgabe darin bestand, vorüberfahrende Schiffe anzuzeigen. Man sieht sehr weit und überblickt die Fahrrinne vor den Glenan-Inseln, die einzige Zufahrt zum Hafen. Aber seit vielleicht fünfzig Jahren wird der Posten nicht mehr besetzt.«
Maigret ging durch einen Eingang hinein, dessen Tür verschwunden war, und betrat einen Raum, dessen Fußboden aus gestampfter Erde bestand. Enge Schießscharten gewährten einen Blick hinaus aufs offene Meer. Auf der anderen Seite war nur ein einziges Fenster ohne Rahmen und ohne Scheiben. Und auf den Steinwänden Inschriften, hineingeritzt mit einer Messerspitze. Auf der Erde verdrecktes Papier, zahllose Abfälle.
»Hier also hat fast fünfzehn Jahre lang ein Mann gelebt, ganz allein. Ein Schwachkopf. Eine Art Wilder. Er schlief in dieser Ecke, unempfindlich gegen die Kälte, die Feuchtigkeit und die Stürme, die Gischt durch die Schießscharten hereinschleuderten. Er was eine Attraktion. Die Pariser kamen ihn im Sommer besuchen, gaben ihm Geldstücke. Ein Postkartenverkäufer ist auf die Idee gekommen, ihn zu fotografieren und diese Porträts am Eingang zu verkaufen. Schließlich ist der Mann gestorben, während des Krieges. Niemand fiel es ein, den Ort zu säubern. Gestern kam ich auf den Gedanken, daß sich vielleicht hier jemand versteckt, wenn überhaupt in dieser Gegend …«
Maigret stieg eine schmale Steintreppe hinauf, die direkt in die dicke Mauer hineingebaut war, gelangte in ein Schilderhaus oder vielmehr in einen Granitturm, der nach allen vier Seiten hin offen war und von wo aus man die gesamte Region bewundern konnte.
»Das war der Wachtposten. Vor der Erfindung der Leuchttürme wurde ein Feuer auf der Terrasse entfacht … Wir sind also heute morgen hergekommen, mein Kollege und ich. Auf Zehenspitzen haben wir uns genähert. Unten, genau dort, wo früher der Verrückte schlief, haben wir einen Mann gesehen, der schnarchte. Ein Hüne. Man hörte aus fünfzehn Metern Entfernung, wie er atmete. Und es ist uns gelungen, ihm die Handschellen anzulegen, bevor er erwachte.«
Sie waren wieder in das viereckige Zimmer hinuntergestiegen, in dem wegen der Zugluft eine eisige Kälte herrschte.
»Hat er sich gewehrt?«
»Noch nicht einmal! Mein Kollege hat seine Papiere verlangt und er hat keine Antwort gegeben. Sie haben ihn nicht sehen können. Er ist stärker als wir beide zusammen. Deshalb habe ich meinen Revolvergriff nicht losgelassen. Und Hände! … Ihre sind schon groß, nicht wahr? … Nun, versuchen Sie mal, sich Hände vorzustellen, die doppelt so groß sind, mit Tätowierungen drauf …«
»Haben Sie erkannt, was sie darstellten?«
»Ich habe bloß einen Anker gesehen, auf der linken Hand, und die Buchstaben ›S. S.‹ zu beiden Seiten. Aber es hatte komplizierte Zeichnungen … Vielleicht eine Schlange? Was am Boden lag, haben wir nicht angerührt. Sehen Sie bloß!«
Von allem etwas: Flaschen von gutem Wein und teuren Spirituosen, leere Konservendosen und ungefähr zwanzig Dosen, die noch nicht angebrochen waren.
Und es gab noch Besseres: die Asche eines Feuers, das mitten im Raum gebrannt hatte und dicht daneben der abgenagte Knochen einer Hammelkeule. Brotkanten. Einige Fischgräten. Eine Kammuschel und Hummerzangen.
»Ein richtiges Festessen, was!« rief der junge Polizist begeistert, der wohl noch nie einen solchen Schmaus mitgemacht hatte. »Das hat uns die Beschwerden, die wir in letzter Zeit erhalten haben, erklärt. Wir haben nicht weiter darauf geachtet, da es sich nicht um schwerwiegende Angelegenheiten handelte … Ein Sechspfünder, der einem Bäcker gestohlen wurde. Ein Korb Wittlinge, der von einem Fischkutter verschwand … Der Lagerverwalter von Prunier behauptete, daß ihm nachts Hummer geklaut würden.«
Maigret stellte eine sonderbare Kopfrechnung an, denn er versuchte herauszubekommen, in wieviel Tagen ein Mann mit gutem Appetit all das hatte verschlingen können, was hier verzehrt worden war.
»Eine Woche,« murmelte er. »Ja … Die Hammelkeule mitgerechnet …«
Plötzlich fragte er:
»Und der Hund?«
»Eben! Wir haben ihn nicht
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