Maigret und der gelbe Hund
begann:
»Ich nehme an, Kommissar, daß Sie diese Komödie nur deshalb inszeniert haben, um ein weiteres Drama zu verhüten und mich in Sicherheit vor … den Attentaten des …«
Maigret stellte fest, daß man ihm weder seine Hosenträger, noch sein Halstuch, noch seine Schnürsenkel weggenommen hatte, wie es Vorschrift war. Mit der Fußspitze zog er sich einen Stuhl heran, nahm Platz, stopfte sich eine Pfeife und murmelte gutmütig:
»Allerdings … Aber nehmen Sie ruhig Platz, Doktor!«
6
Ein Feigling
»Sind Sie abergläubisch, Kommissar?«
Maigret, rittlings auf seinem Stuhl, die Ellbogen auf der Lehne, verzog das Gesicht, was alles nur Erdenkliche bedeuten konnte. Der Arzt hatte nicht Platz genommen.
»Ich glaube, daß wir es eigentlich alle irgendwann einmal sind, oder wenn Ihnen das lieber ist, vielmehr genau dann, wenn man es auf uns abgesehen hat …«
Er hustete in sein Taschentuch, das er mit Sorge betrachtete, und fuhr fort:
»Vor einer Woche hätte ich Ihnen gesagt, daß ich nicht an Wahrsagerei glaube … Und dennoch! Es ist vielleicht fünf Jahre her … Gemeinsam mit einigen Freunden aß ich bei einer Schauspielerin aus Paris zu Abend. Beim Kaffee schlug irgend jemand vor, Karten zu legen. Nun, wissen Sie, was mir prophezeit wurde? Glauben Sie mir, ich habe gelacht! Ich habe erst recht gelacht, weil es sich vom üblichen Klischee abhob: blonde Dame, älterer Herr, der es gut mit Ihnen meint, Brief, der von weither kommt, usw.
Mir selbst wurde gesagt: ›Sie werden eines gräßlichen Todes sterben, eines gewaltsamen Todes … Hüten Sie sich vor gelben Hunden‹.«
Ernest Michoux hatte den Kommissar noch immer nicht angeschaut und heftete nun für einen Moment seinen Blick auf ihn. Maigret war gelassen. Er wirkte riesig auf seinem Stuhl und war geradezu ein Denkmal der Gelassenheit.
»Erstaunt Sie das gar nicht? Jahrelang habe ich nie wieder von einem gelben Hund reden hören … Am Freitag geschieht ein Verbrechen. Einer meiner Freunde fällt ihm zum Opfer. Ich hätte ebenso wie er in diesem Eingang Schutz suchen und von der Kugel getroffen werden können … Und da taucht mit einmal ein gelber Hund auf!
Ein weiterer Freund verschwindet unter unerhörten Umständen. Und der gelbe Hund streift weiter umher!
Gestern war Le Pommeret an der Reihe. Wieder der gelbe Hund! Und da verlangen Sie, daß mich das nicht mitnimmt?«
Er hatte noch nie soviel in einem Atemzug gesagt, und wie er so redete, gewann er wieder Haltung. Die ganze Aufmunterung des Kommissars bestand aus einem:
»Sicher … Sicher …«
»Ist das nicht beunruhigend? Mir wird klar, daß ich Ihnen wie ein Feigling vorgekommen sein mußte. Nun ja! Ich habe Angst gehabt. Eine unbestimmte Angst, die mir vom ersten Verbrechen an die Kehle zugeschnürt hat, besonders, als von einem gelben Hund die Rede war.«
Er durchmaß die Zelle mit kleinen Schritten und schaute dabei zu Boden. Sein Gesicht belebte sich.
»Um ein Haar hätte ich Sie um Ihren Schutz gebeten, aber ich habe befürchtet, daß Sie lächeln würden … Noch mehr habe ich Ihre Verachtung gefürchtet. Denn starke Männer verachten Feiglinge.«
Seine Stimme bekam etwas Spitzes.
»Und ich gebe es ja zu, Kommissar, ich bin ein Feigling! Schon seit vier Tagen habe ich Angst, seit vier Tagen werde ich von Angst gequält. Das ist doch nicht meine Schuld! Ich habe lange genug Medizin studiert, um mir über meinen Fall völlig klar zu sein.
Als ich geboren wurde, mußte ich in einen Brutkasten gelegt werden. In meiner Kindheit habe ich keine Kinderkrankheit ausgelassen.
Und als der Krieg ausgebrochen ist, haben mich Ärzte, die fünfhundert Mann täglich untersuchten, für tauglich erklärt und an die Front geschickt. Dabei hatte ich nicht nur eine schwache Lunge mit Vernarbungen von früheren Erkrankungen her, sondern mir war außerdem zwei Jahre zuvor eine Niere entfernt worden.
Ich habe Angst gehabt! Angst zum Verrücktwerden! Sanitäter haben mich hervorgeholt, als ich bei der Explosion einer Granate in einem Bombentrichter begraben wurde. Und da hat man endlich festgestellt, daß ich für den Militärdienst untauglich war.
Was ich Ihnen erzähle, ist nicht unbedingt amüsant. Aber ich habe Sie beobachtet. Ich habe den Eindruck, daß Sie in der Lage sind, zu verstehen.
Diese Verachtung der Starken für die Feiglinge, das ist einfach … Über die tieferen Ursachen der Feigheit sollte man sich jedoch Gedanken machen.
Sehen Sie mal! Ich habe begriffen, daß Sie
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