Maigret und der gelbe Hund
wiedergesehen. Zwar gibt es Spuren von Pfoten auf dem Boden, aber das Tier haben wir nicht zu Gesicht bekommen … Wissen Sie! Der Bürgermeister muß ganz außer sich sein, wegen dem Doktor … Es würde mich wundern, wenn er nicht nach Paris telegrafiert, wie er angekündigt hat …«
»War Ihr Mann bewaffnet?«
»Nein! Ich habe ihm höchstpersönlich die Taschen durchsucht, während mein Kollege Piedboeuf, der die Handschellen hielt, mit der anderen Hand auf ihn zielte. In einer Hosentasche steckten geröstete Kastanien … Vier oder fünf. Die stammen wohl von dem Karren, der Samstag und Sonntag abends vor dem Kino parkt. Dann noch ein paar Geldstücke. Keine zehn Francs. Ein Messer, aber kein gefährliches. So eins wie es die Fischer beim Brotschneiden verwenden.«
»Er hat kein Wort gesagt?«
»Kein einziges. Deshalb haben wir gedacht, mein Kollege und ich, daß es ein Schwachkopf sei, wie der ehemalige Bewohner. Er betrachtete uns wie ein Gorilla. Sein Bart war eine Woche alt, und mitten im Mund hatte er zwei abgebrochene Zähne.«
»Seine Kleidung?«
»Ich könnte es Ihnen nicht sagen. Ein alter Anzug … Ich weiß nicht einmal mehr, ob er darunter ein Hemd oder einen Pullover trug. Er ist uns brav gefolgt. Wir waren stolz auf unseren Fang. Zehnmal hätte er davonlaufen können, bevor wir in der Stadt eintrafen. Und so waren wir völlig arglos, als er mit einem Ruck die Ketten der Handschellen sprengte. Ich habe geglaubt, meine rechte Hand sei abgerissen! Man sieht den Abdruck der Handschellen immer noch. Was Doktor Michoux anbelangt …«
»Ja?«
»Sie wissen, daß seine Mutter heute oder morgen zurückkommen soll. Sie ist die Witwe eines Abgeordneten. Es heißt, daß sie einen langen Arm hat. Und sie ist mit der Frau des Bürgermeisters befreundet …«
Maigret sah durch die Schießscharten hindurch auf den grauen Atlantik hinaus. Kleine Segelboote schifften zwischen der Pointe du Cabélou und einem Riff hindurch, das man wegen der Brandung erahnte, wendeten dann und begannen ihre Netze in einer Entfernung von weniger als einer Meile auszuwerfen.
»Glauben Sie tatsächlich, daß der Doktor selbst …?«
»Gehen wir!« sagte der Kommissar.
Die Flut stieg. Als sie hinausgingen, begann das Wasser schon an der Plattform zu lecken. Hundert Meter von ihnen hüpfte ein Junge von Fels zu Fels, auf der Suche nach den Reusen, die er in den Vertiefungen aufgestellt hatte. Der junge Polizist konnte nicht den Mund halten.
»Das Seltsamste ist, daß man Monsieur Mostaguen angegriffen hat, den besten Menschen von Concarneau. Man wollte ihn sogar zum Departementsrat machen. Allem Anschein nach ist er gerettet, aber die Kugel hat nicht entfernt werden können. So wird er zeit seines Lebens ein Stück Blei im Bauch mit sich herumtragen! Wenn man sich überlegt, daß ohne diesen Einfall, sich eine Zigarre anzuzünden …«
Sie gingen nicht um das Hafenbecken herum, sondern überquerten einen Teil des Hafens mit der Fähre, die zwischen der »Passage« und der Altstadt hin- und herpendelte.
Unweit der Stelle, wo sich am Abend zuvor junge Kerle mit Steinen über den gelben Hund hergemacht hatten, erblickte Maigret eine Mauer, einen monumentalen Eingang, darüber eine Fahne und die Worte: »Gendarmerie Nationale«.
Er überquerte den Hof eines Gebäudes, das aus der Zeit von Colbert stammte. In einem Büro diskutierte Inspektor Leroy mit einem Wachtmeister der Gendarmerie.
»Der Doktor?« fragte Maigret.
»Eben! Der Wachtmeister wollte das Essen auf keinen Fall von außerhalb kommen lassen …«
»Wenn, dann nur auf Ihre Verantwortung!« sagte der Wachtmeister zu Maigret. »Und ich werde eine Bescheinigung von Ihnen verlangen, um mich abzusichern.«
Im Hof war es still wie in einem Kloster. Ein Brunnen plätscherte mit einem herrlichen Gluckern.
»Wo ist er?«
»Dort unten, rechts. Sie müssen die Tür aufstoßen, dann ist es die zweite Tür auf dem Flur. Soll ich Ihnen öffnen? Der Bürgermeister hat angerufen und geraten, den Häftling so rücksichtsvoll wie möglich zu behandeln …«
Maigret kratzte sich am Kinn. Inspektor Leroy und der Polizist, die beinahe gleich alt waren, betrachteten ihn mit derselben verstohlenen Neugier.
Einige Augenblicke später betrat der Kommissar allein eine Zelle mit weiß gekalkten Wänden, die nicht trostloser war als eine Kasernenstube.
Michoux, vor einem kleinen Tisch aus weißem Holz sitzend, erhob sich bei seinem Eintreten, zögerte einen Moment, schaute weg und
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