Maigret und der Spion
bloß noch franz ö sische Scheine übrig, die allzu leicht identifizierbar sind … Also bestiehlt er eben seine Gefährtin …
Was er sich erhofft? … Nichts! … Und alles, was er fortan tun wird, geschieht als logische Folge der Geg e benheiten …
Verschwommen ahnt er, daß er der Justiz nicht entg e hen wird … Andererseits wagt er nicht, sich zu stellen …
Fragen Sie Kommissar Delvigne, wo die Polizei einen Missetäter dieser Sorte zuerst sucht – und in neun von zehn Fällen findet!
In den verrufenen Lokalen … Er braucht etwas zu trinken, Betrieb, Frauen … Er geht irgendwo hinein, beim Bahnhof … Er will mit der Serviererin nach oben … Weil es damit nichts ist, holt er sich ein Strichmä d chen von der Straße … Er zahlt Runden … Er zeigt se i ne Geldscheine, verteilt sie … Er rast …
Als man ihn festnimmt, lügt er, krankhaft! Er lügt ohne Hoffnung! Er lügt, um zu lügen, wie es manche verdorbenen Kinder tun!
Er ist bereit, jede beliebige Geschichte zu erzählen, sie mit Einzelheiten auszuschmücken … Auch das ein Ch a rakterzug, der zu seiner Beurteilung genügt …
Aber man sagt ihm, der Mörder sei gefaßt … Das bin ich! Man läßt ihn frei … Kurz darauf erfährt er, daß der Mörder sich umgebracht hat, nachdem er ein Gestän d nis abgelegt hat …
Ahnt er die Falle? … Nicht bestimmt … Jedenfalls drängt ihn etwas, die Beweise seiner Schuld zu beseit i gen … Deshalb habe ich diese Komödie aufgeführt, die kindisch erscheinen mochte …
Es gab zwei Mittel, Delfosse zu einem Geständnis zu bringen: entweder das, das ich angewendet habe, oder jenes, ihn allein zu lassen, stundenlang allein im Du n keln, was er ebenso fürchtet wie die Einsamkeit …
Er hätte zu zittern angefangen … Er hätte alles g e standen, was man von ihm hätte hören wollen, sogar noch mehr als die Wahrheit …
Meinerseits bin ich seiner Schuld gewiß, seit sich herausgestellt hat, daß die zweitausend Franc nicht in dem Schokoladengeschäft gestohlen worden sind … Seither hat mich all sein Tun und Treiben in meiner Meinung bestärkt …
Ein banaler Fall trotz allem, der ihn psychopathisch und komplex erscheinen läßt.
Doch etwas blieb mir noch zu klären: der andere Fall, der Fall Graphopulos … Dementsprechend blieben noch andere Schuldige …
Die Meldung vom Tod des Mörders, meines Todes, hat sie alle aus ihren Schlupfwinkeln gelockt …
Delfosse kommt wegen der kompromittierenden Brieftasche …
Victor kommt wegen … «
Maigret ließ langsam seinen Blick die Runde machen.
»Adèle, wie lange benützt Génaro schon Ihre Wo h nung als Versteck für seine gefährlichen Papiere?«
Sie zuckt gleichgültig die Achseln: eine Frau, die seit langem auf eine Katastrophe gefaßt ist.
»Seit Jahren! Er hat mich aus Paris kommen lassen, wo ich am Verhungern war … «
»Sind Sie zu einem Geständnis bereit, Génaro?«
»Ich rede nur im Beisein meines Anwalts.«
»Sie auch? … Genauso wie Victor? … «
Monsieur Delfosse sagte nichts, saß mit gesenktem Kopf da, den Blick auf seinen Rohrstock geheftet, jenen Stock, der Graphopulos getötet hatte.
»Mein Sohn kann nichts dafür … « , murmelte er plöt z lich.
»Ich weiß!«
Der andere sah ihn an, verwirrt und verlegen z u gleich:
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Betrachten Sie doch mal sich und ihn im Spiegel!«
Das war’s! Drei Monate später saß Maigret zu Hause, in Paris, am Boulevard Richard-Lenoir, und sah die Post durch, die die Concierge gerade heraufgebracht hatte.
»Interessante Briefe dabei?« erkundigte sich Madame Maigret, während sie einen Läufer am Fenster ausschütte l te.
»Eine Karte von deiner Schwester, die mitteilt, daß sie schwanger ist.«
»Schon wieder!«
»Ein Brief aus Belgien … «
»Was steht drin?«
»Nichts Interessantes. Ein Freund, Kommissar Delv i gne, der mir ein Päckchen mit einer Pfeife schickt und von einigen Gerichtsurteilen berichtet … «
Er las halblaut:
… Génaro zu fünf Jahren Zuchthaus, Victor zu drei Jahren und Adèle mangels Beweisen freigesprochen …
»Was sind das für Leute?« wollte Madame Maigret wi s sen, die sich auch als Frau eines Kommissars der Pariser Kriminalpolizei die ganze Arglosigkeit eines Mädchens vom Lande bewahrt hatte.
»Uninteressante! Leute, die ein Nachtlokal in Lüttich führten, ein Lokal, in dem es keine Gäste gab, wo aber rege Spionage betrieben wurde … «
»Und diese Adèle?«
»Die Tänzerin des Hauses …
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