Maigret und der Spion
Stuhl, der neben die Gard e robe gerückt worden war, stieg hinauf, fuhr mit der Hand über deren Oberseite und holte eine Aktentasche aus schwarzem Leder herunter.
»Da haben wir’s!« sagte er, und kletterte vom Stuhl. »Ist das der Lippenstift, Victor?«
»Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen!«
»Na, ist das nicht das Ding, das Sie holen kamen?«
»Ich habe diese Mappe noch nie gesehen.«
»Ihr Pech! Und Sie, Delfosse?«
»Ich … Ich schwöre … «
Er vergaß den Revolver, der auf ihn gerichtet war, warf sich Kopf voran aufs Bett und brach in krampfha f tes Schluchzen aus.
»Nun, mein guter Victor, gibt’s nichts zu sagen? Nicht einmal, warum es zu der Balgerei mit dem jungen Mann da kam?«
Und Maigret setzte den schmutzigen Teller, das Glas und die Flasche auf den Boden, legte stattdessen die A k tentasche auf den Nachttisch und öffnete sie.
»Papiere, die uns nichts angehen, Delvigne. Das alles werden Sie dem Deuxième Bureau übergeben müssen … Sieh da! Da sind Blaupausen eines neuen Masch i nengewehrs aus der Waffenfabrik in Herstal … Und das hier sieht nach Umbauplänen für eine Festung aus … Hm! … Chiffrierte Briefe; mit denen müssen sich die Spezialisten befassen … «
Im Kamin knisterten in einem Gitterkorb die Reste e i nes Brikettfeuers. Plötzlich, als niemand darauf gefaßt war, stürzte Victor zum Nachttisch und ergriff die Papi e re.
Maigret schien diesen Versuch vorausgesehen zu h a ben, denn während Kommissar Delvigne noch zögerte, zu schießen, landete seine Faust mitten im Gesicht des Kellners, der taumelte, ohne dazu zu kommen, die P a piere ins Feuer zu werfen.
Die Blätter lagen verstreut. Victor hielt sich mit be i den Händen die linke Wange, die knallrot anlief. Es gin galles sehr rasch. Und doch hätte Delfosse die Gelege n heit um Haaresbreite genutzt. Blitzschnell war er vom Bett aufg e standen und schon fast hinter Kommissar Delvigne vo r bei, als dieser es merkte und ihm ein Bein stellte.
»Wie sieht’s jetzt aus?« fragte Maigret.
»Ich sag trotzdem nichts«, knurrte Victor wütend.
»Hab ich dich denn etwas gefragt?«
»Ich habe Graphopulos nicht getötet … «
»Was dann?«
»Sie sind gemein! Mein Anwalt … «
»Ach, einen Anwalt hast du auch schon? … «
Kommissar Delvigne beobachtete seinerseits den Ju n gen und bemerkte, wie dessen Blick wiederholt zur Oberseite der Garderobe ging.
»Ich glaube, dort oben ist noch etwas«, sagte er.
»Wahrscheinlich!« erwiderte Maigret und kletterte e r neut auf den Stuhl.
Seine Hand mußte lange herumtasten. Endlich kam sie mit einer Brieftasche aus blauem Leder zum Vo r schein, die er öffnete, »Die Brieftasche Graphopulos’«, verkündete er. »Dreißig Tausendfrancscheine, Papiere … Sieh da! Ein Zettel mit einer Adresse: ›Gai-Moulin‹, Rue du Pont-d’Or … Und in einer anderen Handschrift: Niemand schläft in dem Gebäude … «
Maigret kümmerte sich um niemanden mehr. Er ve r folgte seine bestimmte Idee, untersuchte einen der chi f frierten Briefe, zählte gewisse Zeichen.
»Eins, zwei, drei … elf, zwölf! Ein Wort mit zwölf Buc h staben … Das heißt Graphopulos … In der Mappe … «
Schritte im Treppenhaus. Energisches Klopfen an der Tür. Das lebhafte Gesicht Inspektor Girards.
»Das ›Gai-Moulin‹ ist umstellt. Niemand kommt weg. Aber …
Vor wenigen Minuten ist Monsieur Delfosse dort e r schienen und wollte seinen Sohn sprechen … Er hat Ad è le beiseite genommen … Dann ist er wieder gega n gen … Ich hielt es für richtig, ihn durchzulassen und ihm zu fo l gen … Als ich merkte, daß er hierher will, bin ich vorau s gela u fen … Da! … Er kommt die Treppe rauf … «
Und tatsächlich, jemand stolperte, tastete sich den Gang entlang, klopfte schließlich an die Tür.
Maigret öffnete selbst und verbeugte sich vor dem Mann mit dem silbergrauen Schnurrbart, der ihm einen herablassenden Blick zuwarf.
»Ist mein Sohn … «
Dann sah er ihn dastehen, in jämmerlicher Haltung, schnalzte mit den Fingern, sagte scharf:
»Los! Nach Hause! … «
Beinahe artete die Szene aus. René blickte entsetzt um sich, verkrallte sich in dem Bettüberwurf, klapperte noch heftiger mit den Zähnen.
»Einen Moment!« schaltete sich Maigret ein. »Ne h men Sie doch bitte Platz, Monsieur Delfosse!«
Dieser sah sich mit einem gewissen Abscheu in dem Zimmer um.
»Sie wollen mich sprechen? Wer sind Sie?«
»Das spielt keine Rolle! Kommissar Delvigne wird es Ihnen zu
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