Maigret und der Spion
unruhig und mißtrauisch:
»Kennen Sie den Mann, der vor dem Haus auf- und abgeht, Madame Chabot?«
Er hatte einen starken slawischen Akzent. Seine A u gen hatten einen fanatischen Glanz. Er war ein rasch aufbrausender Mensch.
Er war eigentlich aus dem Alter heraus, in dem man studiert. Aber er war als regulärer Student an der Univers i tät eingeschrieben, obwohl er die Vorlesungen nie besuc h te.
Man wußte, daß er aus Georgien stammte und dort politisch tätig gewesen war. Er behauptete, adlig zu sein.
»Was tut er denn, Monsieur Bogdanowski?«
»Kommen Sie … «
Er zog sie ins Eßzimmer, dessen Fenster auf die Straße ging. Jean zögerte, ihnen zu folgen. Schließlich tat er es doch.
»Seit einer Viertelstunde geht er da auf und ab … Ich kenne mich aus! Das ist sicher einer von der Polizei.«
»Aber nein«, meinte Madame Chabot zuversichtlich. »Sie sehen überall Polizisten! Das ist bloß jemand, der eine Verabredung hat. «
Der Georgier warf ihr dennoch einen argwöhnischen Blick zu und ging dann wieder in sein Zimmer hinauf. Jean indessen hatte den Mann mit den breiten Schultern wiedererkannt.
»Komm jetzt gefälligst essen, verstanden! Und zwar ohne Faxen. Sonst marschierst du ins Bett, und ich ruf den Arzt … «
Monsieur Chabot kam über Mittag nicht nach Ha u se. Gegessen wurde in der Küche, wo Madame Chabot sich kaum jemals hinsetzte, sondern ständig geschäftig zwischen Tisch und Herd unterwegs war.
Während Jean mit gesenktem Kopf versuchte, ein paar Bissen hinunterzuschlucken, beobachtete sie ihn und bemerkte plötzlich ein Detail seiner Kleidung.
»Wo kommt diese Krawatte wieder her?«
»Ich … die hat René mir geschenkt … «
»René, immer René. Hast du denn überhaupt keinen Stolz? Ich schäme mich für dich! Die Leute haben vie l leicht Geld, aber das macht sie nicht respektabler. Die Eltern sind noch nicht einmal richtig verheiratet.«
»Maman!«
Gewöhnlich sagte er Mutter. Aber er wollte, daß es flehentlich klang. Er war am Ende. Er verlangte nichts anderes als ein bißchen Frieden während der paar Stu n den, die er zu Hause verbringen mußte. Im Geist sah er den Unbekannten draußen auf der anderen Straßenseite hin- und hergehen, vor der Mauer der Schule, in der er seine Kinderjahre verbracht hatte.
»Nein, mein Sohn! Mit dir geht’s bergab, glaub mir! Es wird höchste Zeit, daß sich das ändert, wenn du nicht enden willst wie dein Onkel Henry … «
Ein Alptraum, die Beschwörung des Onkels, den man manchmal stockbetrunken antraf oder auf einer Leiter sah, damit beschäftigt, an der Fassade eines Hauses herumzupinseln.
»Dabei hat er studiert! Alle Möglichkeiten standen ihm offen … «
Jean sprang auf, den Mund noch voll, riß buchstä b lich seinen Hut von der Garderobe und ergriff die Flucht.
In Lüttich haben einige Zeitungen eine Morgenau s gabe, doch die Hauptausgabe erscheint um ein Uhr mi t tag. Auf seinem Weg ins Stadtzentrum wandelte Jean Chabot wie in einem sonnigen Nebel, der seine Sicht trübte, und er kam erst jenseits der Maas zu sich, als er ausrufen hörte:
»Verlangen Sie die ›Gazette de Liège‹ … ›Gazette de Liège‹, neueste Ausgabe … Die Leiche im Weidenkoffer! … Schreckliche Enthüllungen … Verlangen Sie die ›G a zette de Liège‹! … «
Neben ihm, keine zwei Meter weiter, kaufte sich der Mann mit den breiten Schultern eine Zeitung und wa r tete auf sein Wechselgeld. Jean durchsuchte seine T a schen, fand aber nur die Banknoten, die er wahllos hi n eingestopft hatte, jedoch keine Münzen. Daraufhin ging er weiter und stieß wenig später die Tür zur Kanzlei auf, wo die andern Angestellten bei der Arbeit saßen.
»Fünf Minuten zu spät, Monsieur Chabot!« bemerkte der Kanzleichef. »Das ist nicht viel, kommt aber in let z ter Zeit häufig vor.«
»Entschuldigen Sie … die Straßenbahn … Ich habe da die kleine Kasse … «
Er spürte sehr wohl, daß sein Gesicht nicht den no r malen Ausdruck hatte. Die Haut über den Backenkn o chen brannte. Und in den Augen hatte er stechende Schmerzen.
Monsieur Hosey blätterte das Heft durch und übe r prüfte die Zahlen am Fuß der Seiten.
»Hundertachtzehn fünfzig … Haben sie das noch ü b rig?«
Jean bereute, daß er nicht daran gedacht hatte, einen seiner Scheine zu wechseln. Er hörte, wie sich der zweite Kanzlist und die Schreibkraft über den Weidenkoffer unterhielten.
»Graphopulos … Ist das ein türkischer Namen?«
»Es heißt, er sei Türke …
Weitere Kostenlose Bücher