Maigret und der Spion
anzuvertrauen, sie um Rat zu bi t ten, sich jedenfalls trösten zu lassen von dieser Frau mit den müden Augen, deren Körper wohl unter dem Mo r genrock etwas schlaff war, aber doch verlockend, wenn sie in ihren roten Satinpantoffeln durch das unordentl i che Zimmer schlurfte.
Auf dem ungemachten Bett sah er eine Ausgabe der ›Gazette de Liège‹.
3
Der Mann mit den breiten Schultern
Sie war eben erst aufgestanden. Neben dem Kocher rann eine Kondensmilchdose.
»Dein Freund ist also nicht mitgekommen?« erku n digte sie sich nochmals.
Sogleich verfinsterte sich Chabots Gesicht, und gro l lend erwiderte er:
»Warum sollte er mitgekommen sein?«
Sie merkte nichts, öffnete einen Schrank und kramte ein rosa Unterhemd hervor.
»Stimmt’s, daß sein Vater ein reicher Fabrikant ist?«
Jean hatte sich nicht gesetzt, nicht einmal seinen Hut abgelegt. Er sah ihr zu, wie sie hin und her ging; dabei wurde er von höchst widersprüchlichen Gefühlen hei m gesucht, einer Mischung aus Trauer, Verlangen, instin k tiver Hochachtung vor dieser Frau und Verzweiflung.
Sie war keine Schönheit, zumal nicht in abgetragenen Pantoffeln und zerknittertem Morgenrock. Doch für ihn gewann sie möglicherweise gerade durch die Ungezwu n genheit ihrer Intimität an Charme. War sie fünfun d zwanzig, dreißig? Jedenfalls hatte sie ein bewegtes Leben hinter sich. Oft sprach sie von Paris, von Berlin, Oste n de, nannte sie die Namen berühmter Nachtlokale.
Aber leidenschaftslos, ohne Einbildung, ohne Getue. Im Gegenteil! Ihr vorherrschender Charakterzug war e i ne gewisse Trägheit, die sich im Ausdruck ihrer Augen zeigte, in der lässigen Art, die Zigarette zwischen die Lippen zu klemmen, in ihren Bewegungen und in ihrem Lächeln.
Eine lächelnde Trägheit.
»Was hat er für eine Fabrik?«
»Eine Fahrradfabrik.«
»Komisch. In Saint-Etienne habe ich schon einmal einen Fahrradfabrikanten gekannt. Wie alt ist er? … «
»Der Vater?«
»Nein, René … «
Daß sie diesen Vornamen im Munde führte, ließ ihn ein noch saureres Gesicht machen.
»Achtzehn.«
»Er hat es faustdick hinter den Ohren, nicht wahr?«
Ihre Vertrautheit war vollkommen. Sie behandelte Jean Chabot wie ihresgleichen. Wenn sie dagegen von René Delfosse sprach, lag eine Spur Achtung in ihrer Stimme.
Hatte sie erraten, daß Chabot nicht reich war, daß er aus etwa ähnlichen Verhältnissen kam wie sie selbst?
»Setz dich! … Es stört dich doch nicht, wenn ich mich anziehe? … Reich mir doch die Zigaretten.«
Er blickte sich suchend um.
»Auf dem Nachttisch! … Ja, da … «
Jean, schreckensblaß, wagte das Etui kaum anzufa s sen, das er am Abend zuvor in den Händen des Fremden gesehen hatte. Er blickte die Frau an, die, nackt unter ihrem Morgenrock, die Strümpfe anzog.
Seine Verwirrung wuchs. Er wurde knallrot. Vielleicht wegen des Zigarettenetuis, vielleicht wegen dieser Nack t heit, höchstwahrscheinlich wegen beidem.
Adèle war nicht bloß eine Frau. Sie war eine Frau, die in ein Drama verwickelt war, eine, die zweifellos ein Geheimnis hatte.
»Nun?«
Er reichte ihr das Etui.
»Hast du Feuer?«
Seine Hand zitterte, als er ihr das brennende Streic h holz hinhielt. Da lachte sie hellauf.
»Du hast wohl noch nicht viele Frauen gesehen in deinem Leben?«
»Ich habe schon Mätressen gehabt.«
Das Lachen wurde stärker. Sie blickte ihm aus halbg e schlossenen Augen ins Gesicht.
»Du bist komisch! … Ein komischer Kerl. Gib mir meinen Strumpfgürtel!«
»Sind Sie heute nacht spät nach Hause gekommen?«
Sie betrachtete ihn nun mit einer Spur mehr Ernst.
»Bist du etwa verliebt? … Und eifersüchtig dazu? Jetzt verstehe ich, warum du ein solches Gesicht gezogen hast, als ich von René sprach. Komm, dreh dich zur Wand … «
»Haben Sie noch keine Zeitung gelesen?«
»Nur den Fortsetzungsroman. «
»Der Fremde von gestern abend ist umgebracht wo r den.«
»Im Ernst?«
Sie war nicht sehr betroffen, höchstens neugierig.
»Wer war’s?«
»Das weiß man nicht. Seine Leiche ist in einem We i denkoffer entdeckt worden.«
Der Morgenrock fiel aufs Bett. Jean drehte sich um, als sie gerade ihr Unterhemd herunterzog und im Schrank nach einem Kleid griff.
»Schon wieder eine Geschichte, die mir mögliche r weise Ärger bringt! … «
»Haben Sie das ›Gai-Moulin‹ mit ihm zusammen ve r lassen?«
»Nein, ich ging allein weg … «
»So!«
»Das hört sich an, als glaubtest du mir nicht … Stellst du dir etwa vor, ich nehme
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