Maigret und der Spion
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Jean summten die Ohren. Er zog zwei Hundertfranc-Scheine aus der Tasche. Kühl zeigte Monsieur Hosey auf etwas, das zu Boden gefallen war: ein dritter Schein.
»Mir scheint, Sie gehen sehr leichtfertig mit Geld um. Haben Sie keine Brieftasche?«
»Entschuldigen Sie … «
»Wenn der Chef sähe, wie Sie die Banknoten so ei n fach in die Tasche stecken … Nun, ich habe kein Klei n geld. Sie übertragen diese hundertachtzehn Franc fün f zig also auf die neue Rechnung. Wenn die Summe e r schöpft ist, können Sie von mir weiteres Geld beko m men. Heute nachmittag müssen Sie noch bei allen Ze i tungen vorbei und die notariellen Anzeigen au f geben. Es eilt! Sie sollen morgen erscheinen … «
Der Türke! Der Türke!
Draußen kaufte Jean eine Zeitung und stand dann eine ganze Weile inmitten Neugieriger, weil der Ze i tungsverkäufer erst Kleingeld holen mußte. Er las im Gehen, wobei er Passanten anstieß:
Das Geheimnis des Weidenkoffers
Heute früh gegen neun Uhr, gleich nach der Öffnung, en t deckte ein Wärter des Zoologischen Gartens auf einer R a senfläche einen großen Weidenkoffer. Vergeblich versuchte er, ihn aufzumachen. Der Deckel war durch eine Que r stange verschlossen, mit einem massiven Vorhängeschloß als Sicherung.
Der Wärter holte deshalb Polizist Leroy herbei, der seine r seits den Kommissar vom vierten Polizeirevier verstä n digte.
Erst um zehn Uhr konnte der Koffer endlich von einem Schlosser geöffnet werden. Und man stelle sich den Anblick vor, der sich den Untersuchungsbeamten bot:
Ein zusammengekrümmter Leichnam, dem man, um ihn leichter verstauen zu können, roh die Halswirbel gebr o chen hatte.
Es handelte sich um einen Mann von etwa vierzig Ja h ren und ausgesprochen fremdländischem Typus, bei dem sich ke i ne Brieftasche fand. Dagegen enthielt eine seiner Westent a schen Visitenkarten auf den Namen Ephraim Graphopulos.
Er kann erst vor kurzem in Lüttich angekommen sein, denn er ist weder bei der Fremdenpolizei angemeldet noch als Gast in einem der hiesigen Hotels verzeichnet.
Der Gerichtsarzt wird die Autopsie erst heute nachmi t tag vornehmen, doch man geht jetzt schon davon aus, daß der Tod im Lauf der Nacht eintrat und durch einen Schlag mit einem schweren Gegenstand herbeigeführt wurde, etwa einem Gummiknüppel, einer Eisenstange, einem Sandsack oder einem Bleirohr.
Alle näheren Angaben zu diesem Fall, der ganz nach Sensation aussieht, lesen Sie in unserer nächsten Ausgabe.
Das Blatt in der Hand, trat Jean an den Schalter der Zeitung ›La Meuse‹, gab dort seine notariellen Anzeigen auf und wartete auf seine Quittung.
Die Stadt lag in der Sonne, pulsierte vor Leben. Es waren die letzten schönen Herbsttage, und auf den Bo u levards begann man bereits, die Buden für die große Oktoberkirmes aufzubauen.
Vergebens hielt er hinter sich Ausschau nach dem Verfolger vom Vormittag. Als er am ›Pélican‹ vorbeikam, vergewisserte er sich, daß Delfosse, der nachmittags ke i ne Vorlesungen hatte, nicht dort war.
Er machte einen Umweg über die Rue du Pont-d’Or. Die Türen des ›Gai-Moulin‹ standen offen. Der Saal lag im Schatten, so daß das Granatrot der Bänke kaum e r kennbar war. Victor putzte die Fenster, und Chabot ging rasch weiter, bevor er bemerkt wurde.
Er ging noch zum ›Express‹, zum ›Journal de Liège‹ …
Adèles Balkon zog seinen Blick an. Er zögerte. Einmal schon hatte er sie besucht, vor einem Monat. Delfosse hatte sich gerühmt, der Liebhaber der Tänzerin gewesen zu sein. Daraufhin hatte er gegen Mittag bei ihr ang e klopft, unter einem albernen Vorwand. Sie hatte ihn ei n gelassen und war dann, in einen schmuddeligen Mo r genmantel gehüllt, ungeniert mit ihrer Toilette fortgefa h ren, dabei ganz kameradschaftlich mit ihm pla u dernd.
Er hatte keinerlei Annäherungsversuche gemacht. Dennoch war er von dieser Intimität beglückt gewesen.
Er stieß die Eingangstür im Erdgeschoß neben dem Lebensmittelgeschäft auf, stieg die dunkle Treppe hinauf und klopfte.
Niemand antwortete. Doch kurz darauf schlurften Schritte über den Boden. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und starker Spiritusgeruch drang heraus.
»Du bist’s! Ich dachte, es sei dein Freund. «
»Warum?«
Adèle wandte sich schon wieder dem kleinen verni c kelten Brenner zu, auf dem eine Brennschere lag.
»Nur so! Ich weiß nicht! Mach die Tür zu … Es zieht … «
In diesem Augenblick empfand Chabot das dränge n de Bedürfnis, sich ihr
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