Maigret und der Treidler der Providence
wartete an der Schleuse von Aigny auf die Yacht. Das Manöver wurde fehlerlos ausgeführt, und als das Boot festgemacht war, ging der Russe an Land, um dem Schleusenwärter die Papiere und ein Trinkgeld auszuhändigen.
»Diese Mütze gehört doch Ihnen?« fragte der Kommissar und ging auf ihn zu.
Wladimir betrachtete das Ding, das nur noch ein schmutziger Lappen war, und dann den Kommissar.
»Danke!« sagte er schließlich und nahm die Mütze.
»Einen Moment! Würden Sie mir sagen, wann Sie sie verloren haben?«
Der Colonel verfolgte die Szene mit den Augen, ohne sich das Geringste anmerken zu lassen.
»Sie ist mir gestern abend ins Wasser gefallen«, erklärte Wladimir. »Ich hatte mich über den Achtersteven gebeugt und wollte mit einem Bootshaken die Schlingpflanzen wegziehen, die die Schraube blockierten. Hinter uns war ein Schleppkahn. Die Frau kniete im Beiboot und spülte ihre Wäsche aus. Sie hat die Mütze herausgefischt, und ich habe sie zum Trocknen auf das Oberdeck gelegt.«
»Mit anderen Worten, sie war heute nacht auf Deck?«
»Ja. Heute morgen ist mir nicht aufgefallen, daß sie nicht mehr da war.«
»War sie gestern schon schmutzig?«
»Nein! Als die Schiffersfrau sie herausfischte, hat sie sie gleich durch die Lauge gezogen, mit der sie gerade hantierte.«
Die Yacht hob sich ruckweise, und der Schleusenwärter hielt schon die Kurbel des Obertors in beiden Händen.
»Wenn ich mich recht erinnere, war das die ›Phoenix‹, die hinter Ihnen lag, nicht wahr?«
»Ich glaube schon. Ich habe sie heute nicht mehr gesehen.«
Maigret verabschiedete sich mit einer vagen Geste und ging zu seinem Fahrrad zurück, während der Colonel mit unerschütterlicher Miene einkuppelte und den Schleusenwärter im Vorbeifahren mit einer leichten Verbeugung grüßte.
Der Kommissar blieb eine Weile stehen und blickte ihm versonnen nach. Die erstaunliche Einfachheit, mit der sich die Dinge an Bord der ›Southern Cross‹ abspielten, stimmte ihn nachdenklich.
Die Yacht setzte ihre Fahrt fort, ohne sich um ihn zu kümmern. Von seinem Ruderstand aus stellte der Colonel dem Russen nur eine kurze Frage, die dieser mit einem einzigen Satz beantwortete.
»Ist die ›Phoenix‹ weit voraus?« erkundigte sich Maigret.
»Vielleicht im Abschnitt von Juvigny, fünf Kilometer von hier. Die ist nicht so schnell wie dieses Dings da.«
Maigret kam einige Minuten vor der ›Southern Cross‹ dort an, und Wladimir mußte von weitem sehen können, wie er die Frau des Schiffers ausfragte.
Die Angaben stimmten. Am Vorabend, als sie ihre Wäsche gewaschen hatte, die nun vom Wind gebläht an einem Draht hing, der quer über das Deck gespannt war, hatte sie die Mütze des Matrosen aus dem Wasser gefischt. Und der hatte ihrem Jungen kurz darauf zwei Francs in die Hand gedrückt.
Es war zwei Uhr nachmittags. Der Kommissar stieg wieder auf seinen Sattel, den Kopf schwer von konfusen Hypothesen. Der Kies auf dem Leinpfad knirschte unter den Reifen, die kleinere Steinchen links und rechts zur Seite schleuderten.
Bei Schleuse 9 hatte Maigret einen erheblichen Vorsprung vor dem Engländer.
»Können Sie mir sagen, wo sich die ›Providence‹ jetzt befindet?«
»Nicht weit von Vitry-le-François. Sie machen gute Fahrt, denn sie haben kräftige Pferde und vor allem einen Treidler, der sich nicht vor der Arbeit drückt.«
»Hatten Sie den Eindruck, daß sie es eilig haben?«
»Nicht mehr und nicht weniger als sonst. Auf dem Kanal hat man es immer eilig, nicht wahr? Man weiß nie, was einen erwartet. Man kann an einer einzigen Schleuse stundenlang aufgehalten werden, man kann aber auch in zehn Minuten durch sein. Und je schneller man vorankommt, desto mehr verdient man.«
»Sie haben heute nacht nichts Ungewöhnliches gehört?«
»Nichts! Warum? Ist irgend etwas passiert?«
Maigret fuhr weiter, ohne zu antworten, und hielt von nun an bei jeder Schleuse und jedem Schiff an.
Es war ihm nicht schwergefallen, sich ein Urteil über Gloria Negretti zu bilden. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, nichts gegen den Colonel zu sagen, hatte sie in Wirklichkeit alles ausgepackt, was sie wußte.
Denn sie war nicht imstande, irgend etwas für sich zu behalten! Und auch nicht imstande zu lügen! Sonst hätte sie sich nämlich weit kompliziertere Dinge ausgedacht.
Sie hatte also gehört, wie Sir Walter Wladimir gebeten hatte, sich nach der ›Providence‹ zu erkundigen.
Auch der Kommissar hatte sich schon Gedanken über diesen Treidelkahn
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