Maigret und die Affäre Saint Fiacre
schenem Gesicht und pomadeglänzendem Haar brachte den Mut auf, dem Kommissar zuzurufen:
»Bei der Tatin wartet man auf Sie, wegen dem Meßbuch-Dieb …«
Und er stieß seine Kameraden mit dem Ellbogen an, unterdrückte ein Lachen, das dann doch durchbrach, während er den Kopf abwandte.
Er hatte nicht geschwindelt. Bei Marie Tatin war es jetzt warm, die Luft schon schwer. Da war Pfeife um Pfeife geraucht worden.
Eine Bauernfamilie an einem der Tische verzehrte Eßwaren, die sie vom Hof mitgebracht hatten, und trank dazu aus großen Tassen Milchkaffee. Der Vater schnitt mit seinem Taschenmesser Scheiben von einer Hartwurst ab.
Die Jungen tranken Limonade, die Alten Branntwein. Und Marie Tatin trippelte pausenlos hin und her.
In einer Ecke erhob sich eine Frau beim Eintritt des Kommissars, ging ihm einen Schritt entgegen, verängstigt, zögernd, mit feuchtgeleckten Lippen. Sie hielt die Hand auf der Schulter eines Buben, dessen rotes Haar Maigret wiedererkannte.
»Sie sind der Kommissar, Monsieur?«
Jedermann schaute zu ihm hin.
»Zuerst muß ich Ihnen sagen, Herr Kommissar, wir w a ren in unserer Familie immer ehrlich! Und doch sind wir arm … Verstehen Sie? … Als ich merkte, daß Ernest …«
Der Bub, ganz blaß, blickte starr vor sich hin, ohne das geringste Zeichen von Gemütsbewegung.
»Hast du das Meßbuch aufgelesen?« fragte Maigret und beugte sich zu ihm.
Keine Antwort. Ein stechender, abweisender Blick.
»Gib dem Herrn Kommissar doch Antwort …«
Aber der kleine Junge machte den Mund nicht auf. Ohne länger zu warten, versetzte ihm seine Mutter eine Ohrfeige, die seinen Kopf wackeln und seine linke Ba c ke rot anlaufen ließ. Tränen stiegen ihm in die Augen, und seine Lippen bebten, doch er blieb still.
»Willst du wohl antworten, du Unglücksbalg?«
Und zu Maigret gewandt:
»So sind die Kinder heutzutage! Seit Monaten plagt er mich, damit ich ihm ein Meßbuch kaufe! Ein dickes, wie das vom Herrn Pfarrer. Können Sie sich das vorste l len? … Drum, als ich vom Meßbuch der Frau Gräfin hörte, habe ich gleich gedacht … Außerdem war ich e r staunt, ihn zwischen der zweiten und der dritten Messe heimkommen zu sehen, weil er gewöhnlich im Pfarrhaus ißt … Ich bin in sein Zimmer gegangen und fand das da unter seiner Matratze …«
Abermals knallte die Hand der Mutter auf die Backe des Kindes, das keinen Versuch machte, dem Schlag au s zuweichen.
»Ich, ich konnte in seinem Alter nicht einmal lesen. Jedenfalls wäre ich sicher nie so schamlos gewesen, ein Buch zu stehlen …«
In der Gaststube herrschte achtungsvolle Stille. Maigret hielt das Meßbuch in den Händen.
»Ich danke Ihnen, Madame …«
Er hatte es eilig, den Band durchzusehen. Er machte Miene, in den hinteren Teil des Raumes zu gehen.
»Herr Kommissar …«
Die Frau rief ihn zurück. Sie war verunsichert.
»Man hat mir gesagt, daß eine Belohnung … Es ist nicht, weil Ernest …«
Maigret reichte ihr zwanzig Franc, die sie ordentlich in ihrem Handtäschchen verstaute. Dann zog sie ihren Sohn zur Türe, wobei sie schimpfte:
»Und du, Galgenstrick, du wirst sehen, was dich erwartet …«
Maigrets Blick begegnete jenem des kleinen Jungen. Es war eine Sache weniger Sekunden. Trotzdem erfaßte der eine wie der andere, daß sie Freunde waren.
Vielleicht weil Maigret sich seinerzeit innigst – und vergeblich! – ein Meßbuch gewünscht hatte, nicht die gewöhnliche Ausführung, sondern jene mit Goldschnitt und allen liturgischen Texten auf zwei Spalten gesetzt, lateinisch und französisch.
»Wann kommen Sie mittagessen?«
»Ich weiß es nicht.«
Maigret wäre beinahe in sein Zimmer hinaufgestiegen, um das Meßbuch zu untersuchen. Doch ei n gedenk der Zugluft, die durch alle Dachritzen strich, zog er es vor, auf die Straße zu gehen.
Während er langsam dem Schloß entgegenschritt, schlug er das Buch auf, auf dessen Einband das Wappen der Saint-Fiacre eingeprägt war. Vielmehr brauchte er es nicht au f zuschlagen. Der Band öffnete sich von selbst an einer Stelle, wo zwischen zwei Seiten ein Papier lag.
Seite 1403 . Schlußgebet
Was da steckte, war eine unsorgfältig ausgeschnittene Zeitungsmeldung, die sich schon beim ersten Betrachten seltsam ausnahm, wie schlecht gedruckt.
Paris, 1 . November. Ein dramatischer Selbstmord ereignete sich heute früh an der Rue de Miromesnil, in einem seit me h reren Jahren vom Grafen de Saint-Fiacre und seiner Freundin, einer Russin namens Marie v. bewohnten
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