Maigret und die alte Dame
Zimmer ausstrahlte. Wenn auch das Haus hübsch und mit erlesenem Geschmack eingerichtet war, war man doch nicht darauf gefasst, sich plötzlich in dem Zimmer einer großen Kokotte zu befinden, in dem alles mit cremefarbenem Satin ausgeschlagen war. Mitten auf dem riesigen Bett hielt eine Siamkatze mit bläulichem Fell Mittagsschlaf und öffnete kaum ihre goldfarbenen Augen, um die fremden Besucher zu begrüßen.
»Vielleicht finden Sie die Einrichtung ein wenig albern für eine alte Frau?«
Als sie in das gekachelte Bad hinübergingen, sagte sie noch: »Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass ich als junges Mädchen nie ein eigenes Zimmer hatte und mit meinen Schwestern zusammen in einem Mansardenzimmer schlafen musste. Am Brunnen im Hof mussten wir uns waschen. In der Avenue d’Iéna ließ Fernand mir ein Badezimmer ganz in rosa Marmor einrichten, mit Armaturen aus vergoldetem Silber, wo man über drei Stufen in die Wanne steigen konnte.«
Roses Zimmer war leer, ein Windzug bauschte die Baumwollvorhänge auf wie eine Krinoline, der Fußboden war gewachst, und die Wände waren mit einem Blumenmuster tapeziert.
»Was sagt der Gerichtsarzt?«
»Es ist einwandfrei eine Vergiftung. Eine starke Dosis Arsen. Das Schlafmittel hat nichts mit dem Tod des Dienstmädchens zu tun. In dem Bericht steht außerdem, dass die Flüssigkeit einen sehr bitteren Geschmack gehabt haben muss.«
»Das sagte Valentine auch.«
»Und die Rose hat sie trotzdem getrunken. Sehen Sie den Mann auf dem Bürgersteig da drüben, der in das Papiergeschäft geht. Das ist Theo Besson.«
Der Mann war groß und hager, mit markanten Zügen, und schien um die Fünfzig zu sein. Er trug einen rostfarbenen Tweedanzug, in dem er sehr englisch wirkte. Er trug keinen Hut, die grauen Haare waren schütter.
Er wurde auf die beiden Männer aufmerksam. Den Inspektor kannte er schon, und wahrscheinlich erkannte er auch Kommissar Maigret. Wie Arlette zögerte er kurz, deutete leicht einen Gruß an und verschwand in dem Papiergeschäft.
»Haben Sie ihn vernommen?«
»Beiläufig. Ich fragte ihn, ob er keine Erklärung abzugeben habe und ob er länger in Etretat bleiben wolle. Er antwortete, er wolle erst abreisen, wenn die Hotels schließen würden.«
»Was macht er den ganzen Tag?«
»Er läuft viel am Meer entlang, ganz allein und mit großen regelmäßigen Schritten, wie nicht mehr ganz junge Leute, die in Form bleiben wollen. Gegen elf Uhr badet er, und die übrige Zeit lungert er in der Bar des Kasinos und in den Bistros herum.«
»Trinkt er viel?«
»Ein Dutzend Whiskys pro Tag, aber ich glaube nicht, dass er sich betrinkt. Er liest vier oder fünf Zeitungen. Manchmal spielt er auch, setzt sich dabei aber niemals an einen der Tische.«
»Steht sonst nichts in diesen Berichten?«
»Nichts von Bedeutung.«
»Hat Theo seine Stiefmutter seit Sonntag noch einmal getroffen?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Wer hat sie noch einmal gesehen? Erzählen Sie mir kurz, was am Montag los war. Ich weiß so ungefähr alles über den Sonntag, aber der Ablauf des Montags ist mir ziemlich unklar.«
Er wusste, was Valentine am Dienstag gemacht hatte, denn sie hatte es ihm erzählt. Sie hatte La Bicoque früh verlassen, Madame Leroy blieb dort, und den ersten Zug nach Paris genommen. Mit einem Taxi fuhr sie zum Quai des Orfèvres, wo die Unterhaltung mit dem Kommissar stattfand.
»Haben Sie danach Ihre Tochter besucht?« hatte er sie vorhin gefragt.
»Nein. Warum?«
»Besuchen Sie sie nie, wenn Sie in Paris sind?«
»Selten. Sie leben ihr Leben und ich das meinige. Außerdem mag ich das Viertel Saint-Antoine nicht, wo sie wohnen, und auch nicht ihre kleinbürgerliche Wohnung.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich habe in einem Restaurant in der Rue Duphot zu Mittag gegessen, wo ich schon immer gerne gegessen habe, zwei, drei Einkäufe im Viertel um die Madeleine gemacht und bin wieder in den Zug gestiegen.«
»Wusste Ihre Tochter, dass Sie in Paris sind?«
»Nein.«
»Ihr Stiefsohn Charles auch nicht?«
»Ich habe ihm nichts von meinem Plan erzählt.«
Er hätte jetzt gerne erfahren, was alles am Montag passiert war.
»Als ich gegen acht Uhr ankam«, sagte Castaing, »waren alle im Haus einigermaßen aufgeregt, wie Sie sich denken können.«
»Wer war alles da?«
»Madame Besson natürlich.«
»In welcher Aufmachung?«
»Wie gewöhnlich. Ihre Tochter war auch da, unfrisiert und in Hausschuhen. Dr. Jolly war bei ihnen; er ist ein Freund der
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