Maigret und die alte Dame
Versuchen Sie, Lucas an den Apparat zu bekommen. Ich möchte diese Dinge nicht von hier aus am Telefon besprechen.«
Die meisten Passanten drehten sich nach ihnen um, und man beobachtete sie hinter den Schaufensterauslagen. Maigret wusste noch nicht, was er mit dem Abend anfangen würde und wo er mit der Untersuchung beginnen sollte. Ab und zu sagte er mechanisch vor sich hin:
»Die Rose ist tot.«
Sie war die einzige, über die er noch nichts erfahren hatte, außer dass sie kräftig gebaut und vollbusig war.
Er sagte zu Castaing, der gerade den Motor anließ:
»Sie besaß doch bestimmt persönliche Gegenstände in ihrem Zimmer bei Valentine. Was hat man mit ihnen gemacht?«
»Ihre Eltern packten alles in ihren Koffer und nahmen ihn mit.«
»Haben Sie gefragt, ob Sie sie durchsehen dürfen?«
»Ich traute mich nicht. Wenn Sie sie je besuchen, werden Sie den Grund verstehen. Sie empfangen einen nicht gerade freundlich, betrachten einen misstrauisch, schauen einander an und geben dann einsilbige Antworten.«
»Ich gehe wahrscheinlich morgen hin.«
»Es würde mich wundern, wenn Charles Besson Sie nicht heimsuchte. Wo er doch dem Minister so zugesetzt hat, um Sie wegen dieser Geschichte herzubekommen.«
Castaing machte sich mit seinem Auto auf den Weg nach Le Havre, und Maigret ging nicht ins Hotel, sondern zum Kasino, dessen Terrasse hoch über dem Strand lag. Es geschah ganz unwillkürlich. Er gab wie alle Städter diesem Drang nach, sich am Meer den Sonnenuntergang anzusehen. Alle Badegäste, die sich noch in Etretat aufhielten, standen da, junge Mädchen in hellen Kleidern, ein paar ältere Damen, die auf den Augenblick warteten, wo die Sonne unterging und aus den Wellen der berühmte grüne Schimmer aufleuchtete.
Maigret taten dabei die Augen weh, so dass er den grünen Schimmer nicht sah, und er ging in die Bar, wo ihn eine bekannte Stimme ansprach:
»Was ist denn nun los?«
»Hallo! Charlie!«
Maigret hatte den Barkeeper in einem Lokal in der Rue Daunou kennengelemt und war überrascht, ihm hier wieder zu begegnen.
»Ich wusste doch, dass Sie die Geschichte in die Hand nehmen würden. Was halten Sie davon?«
»Und Sie?«
»Ich finde, die alte Dame hatte riesiges Glück und das Mädchen verdammtes Pech.«
Maigret trank einen Calvados, weil er nun mal in der Normandie war und damit angefangen hatte. Charlie bediente andere Gäste. Theo Besson hatte sich gerade auf einen Barhocker gesetzt und schlug eine Pariser Zeitung auf, die er wahrscheinlich gerade am Bahnhof gekauft hatte.
Außer einigen kleinen rosa Wolken hatte die Welt draußen jede Farbe verloren, während die regungslose Unendlichkeit des Himmels sich über dem unendlich weiten Meer wölbte.
Er schlenderte noch ein bisschen herum, benommen vom Calvados, ging dann zum Hotel, dessen Fassade sich in der Abenddämmerung kreideweiß abhob. Er ging durch die Grünpflanzen die Treppe hinauf, stieß die Tür auf und ging auf dem roten Teppich zur Anmeldung, um seinen Zimmerschlüssel zu holen.
Der Geschäftsführer beugte sich vertraulich nach vorn:
»Eine Dame erwartet Sie seit einiger Zeit.« Dabei schaute er in eine Ecke der Eingangshalle, in der rote Samtsessel standen.
»Ich habe ihr gesagt, dass ich nicht wüsste, wann Sie zurückkämen, und sie antwortete, sie würde warten. Es ist...«
Er sprach so leise und stockend einen Namen aus, dass Maigret ihn nicht verstand. Aber als er sich umdrehte, erkannte er Arlette Sudre, die in diesem Augenblick aus dem Sessel aufstand.
Besser als am Nachmittag fiel ihm ihre elegante Erscheinung auf, vielleicht weil sie hier die einzige war, die städtisch angezogen war mit einem sehr pariserisch angehauchten Hut, der an einen Fünf-Uhr-Tee im Madeleine-Viertel denken ließ.
Er ging auf sie zu und fühlte sich dabei nicht sehr wohl in seiner Haut.
»Erwarten Sie mich? Kommissar Maigret.«
»Wie Sie bereits wissen, bin ich Arlette Sudre.«
Er deutete mit einer Kopfbewegung an, dass er es schon wusste. Danach schwiegen beide einen Augenblick. Sie schaute sich um, wie um damit anzudeuten, dass man sich in diesem Foyer nur schwierig unterhalten könne, wo ein altes Ehepaar sie nicht aus den Augen ließ und die Ohren spitzte.
»Ich nehme an, Sie wollen mit mir unter vier Augen sprechen. Leider sind wir nicht im Quai des Orfèvres. Ich weiß nicht, wo...«
Er schaute ebenfalls herum. Er konnte sie nicht auf sein Zimmer einladen. Die Bedienung legte die Gedecke im Speisesaal auf, in dem etwa
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