Maigret und die alte Dame
Unterlagen durchgegeben?«
»Nur wenig, aber er will noch einmal anrufen, wenn er mehr herausgefunden hat; ich habe hinterlassen, dass wir in Ihrem Hotel erreichbar sind.«
»Nichts über Theo?«
»Er hatte mehrmals Ärger mit ungedeckten Schecks.
Bevor es zur Verhandlung kam, hat er schließlich immer bezahlt. Die meisten seiner Freunde haben ziemlich viel Geld. Es sind Leute mit einem lockeren Lebenswandel, die immer gern Leute um sich haben. Ab und zu macht er ein kleines Geschäft, vor allem als Vermittler bei irgendwelchen Transaktionen.«
»Keine Frauen?«
»Er scheint sich aus Frauen nicht viel zu machen. Manchmal hat er eine Freundin, aber nie lange.«
»Ist das alles?«
Aus einer kleinen Bar roch es so gut nach Kaffee und starkem Schnaps, dass beide nicht widerstehen konnten und hineingingen. Sie bestellten sich große Tassen, die nach Alkohol dufteten.
»Mein Traum hat mich weniger beunruhigt«, fuhr der Inspektor halblaut fort, »als ein Gedanke, der mir vor dem Einschlafen kam. Ich habe auch mit meiner Frau darüber gesprochen, denn ich kann besser laut als leise denken, und sie war der gleichen Meinung. Es sind jetzt ungefähr fünf Jahre her, dass der alte Fernand Besson gestorben ist, nicht wahr?«
»Ungefähr.«
»Und soviel wir wissen, hat sich seitdem nichts geändert. Bis nun letzten Sonntag jemand versuchte, Valentine zu vergiften. Beachten Sie, dass gerade der Tag gewählt wurde, an dem genug Leute im Haus waren, um den Verdacht auf alle zu lenken.«
»Das stimmt. Und dann?«
»Aber nicht Valentine ist gestorben, sondern die arme Rose ist tot. Wenn es also ein Motiv gab, Valentine aus dem Weg zu räumen, so existiert dieser Grund immer noch. Solange wir also dieses Motiv nicht kennen ...«
»Ist die Gefahr noch nicht gebannt, wollen Sie doch sagen.«
»Ja. Vielleicht ist die Gefahr größer als je zuvor, gerade auch durch Ihre Präsenz. Valentine ist nicht vermögend. Man hat also nicht versucht, sie wegen ihres Geldes umzubringen. Vielleicht weiß sie etwas, was niemand wissen darf. In diesem Fall...«
Maigret hörte sich diese Beweisführung ohne allzu große Begeisterung an. Er schaute hinaus in dieses glänzende Morgenlicht, wo die Luft trotz der Sonne nach der Feuchtigkeit der Nacht noch kühl war.
»Hat Lucas nichts über Julien gesagt?«
»Die Sudres leben in sehr kleinbürgerlichen Verhältnissen in einem billigen Mietshaus. Fünf-Zimmer-Wohnung. Sie haben ein Dienstmädchen, ein Auto und verbringen das Wochenende auf dem Land.«
»Das wusste ich bereits.«
»Hervé Peyrot, der Weinhändler, ist reich. Er besitzt ein großes Geschäft am Quai de Bercy und verbringt den größten Teil seiner Zeit mit Frauen, allen möglichen Frauen. Er fährt drei Autos, unter anderem einen Bugatti.«
Auf einem der Schilder hatte er »Familienstrand« gelesen. Und es stimmte. Mütter mit ihren Kindern, Ehemänner, die sie am Wochenende besuchten, ältere Herren und Damen, die ihre Flasche Mineralwasser und ihre Tabletten im Hotel auf dem Tisch im Speisesaal stehen hatten und in immer den gleichen Sesseln im Kasino zusammensaßen; die Konditorei der Schwestern Seuret, wo man Kuchen und Eis essen konnte; auch die alten Fischer waren die gleichen geblieben, wie sie neben ihren an Land gezogenen Booten fotografiert wurden. Auch Fernand Besson war ein alter, stattlich aussehender Herr gewesen, und Valentine war die reizendste alte Dame, die er kannte; Arlette hätte heute Morgen Modell für eine Postkarte stehen können, ihr Mann war ein unbedeutender kleiner Zahnarzt, und Theo der personifizierte Gentleman, dem man auch verzeiht, wenn er einen über den Durst getrunken hat, weil er immer gleichbleibend ruhig und distinguiert auftrat.
Da kam Charles Besson an; er hatte eine Frau, vier Kinder, darunter ein wenige Monate altes Baby; er trug einen Trauerflor am Ärmel, weil seine Schwiegermutter gestorben war und er noch auf seine Trauerkleidung warten musste. Er war Abgeordneter, duzte auch schon den Minister. Auf seiner Wahlkampagne hatte er Hände schütteln, kleine Kinder auf den Arm nehmen und mit den Fischern und Bauern einen trinken müssen. Auch ihn konnte man als >schönen Mann< bezeichnen - was zum Beispiel Maigrets Mutter einen schönen Mann genannt hätte -, groß und breitschultrig, ein wenig beleibt, er setzte etwas Bauch an, mit beinahe kindlich wirkenden Augen und dicken Lippen unter dem Schnurrbart.
»Habe ich Sie auch nicht warten lassen, Kommissar? Guten Tag, Castaing.
Weitere Kostenlose Bücher