Maigret und die alte Dame
sondern auch die Menschen, den Vater, die Mutter, die braven Kinder, die lieben Großeltern mit ihren weißen Haaren...
Als er in den Polizeidienst trat, hielt er Le Vésinet zum Beispiel eine Zeitlang für den friedlichsten Ort der Welt. Er lag in der Nähe von Paris, aber vor 1914 fuhren noch nicht so viele Autos. Die reichen Leute besaßen noch ihre Landhäuser in Le Vésinet, große und gemütlich aussehende Backsteinhäuser mit gepflegten Gärten, Springbrunnen, Schaukeln und großen versilberten Kugeln. Die Diener trugen gelbgestreifte Westen und die Dienstmädchen weiße Häubchen und Spitzenschürzen.
Es schien, als könnten dort nur glückliche und ehrliche Leute wohnen, denen Ruhe und Glück alles bedeutete, und er wurde insgeheim ernüchtert, als in einer der Villen mit den geharkten Baumreihen eine unsaubere Geschichte an den Tag kam - der gemeine Mord an einer Schwiegermutter aus eigennützigen Motiven.
Jetzt hatte er natürlich seine Erfahrungen gemacht. Er verbrachte sein Leben irgendwie damit, die Kehrseite der Medaille zu betrachten, aber er hatte sich die kindliche Sehnsucht nach der Welt >wie auf den Bildern< bewahrt.
Der kleine Bahnhof sah hübsch aus und erinnerte an ein Aquarell, das ein guter Schüler gemalt hatte, wo gleich über dem Kamin eine rosa Wolke schwebt. Er fand den Spielzeugzug wieder, den Mann, der die Fahrkarten knipste - als Junge hatte er davon geträumt, eines Tages die Fahrkarten knipsen zu dürfen und er sah Arlette, wie sie daherkam, ebenso hübsch und elegant in ihrer pariserischen Aufmachung wie gestern; in der Hand trug sie eine Reisetasche aus Krokodilleder. Er wäre ihr beinahe auf der staubigen Straße entgegengegangen, an der die Hecken und Gräser so würzig dufteten, aber er tat es dann doch nicht, weil es so aussah, als ginge er zu einer Verabredung. Wie sie auf ihren hohen Absätzen den Weg herunterkam, wirkte sie ganz wie das junge Burgfräulein.
Warum sieht die Wirklichkeit immer so ganz anders aus? Oder warum hält man bei einem Kind die Vorstellung einer Welt aufrecht, die es gar nicht gibt, die es sein ganzes Leben mit dieser Wirklichkeit vergleicht?
Sie sah ihn sofort, wie er auf dem Bahnsteig neben dem Zeitungskiosk wartete, und sie lächelte ihm etwas müde zu, als sie ihre Fahrkarte dem Beamten hinhielt. Sie schien erschöpft zu sein. Er las eine gewisse Ängstlichkeit in ihrem Blick.
»Ich habe damit gerechnet, dass Sie da sind«, sagte sie.
»Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Es war eher anstrengend.«
Sie suchte nach einem Abteil, denn die Wagen hatten keine Gänge. Es gab nur ein einziges Abteil erster Klasse, in dem sonst niemand saß.
»Ihre Mutter?«
»Lebt noch. Jedenfalls lebte sie noch, als ich ging.«
Es blieb nur noch kurze Zeit bis zur Abfahrt des Zuges, sie stand auf dem Trittbrett neben ihrer Reisetasche, die sie auf die Sitzbank gestellt hatte.
»Gab es noch eine Auseinandersetzung?«
»Wir sind erst um Mitternacht ins Bett gegangen. Ich muss Ihnen etwas sagen, Monsieur Maigret. Es ist nur eine Vermutung, aber sie lässt mich nicht los. Rose ist tot, aber ich habe das Gefühl, dass das noch nicht alles ist und sich noch eine Tragödie anbahnt.«
»Hat Ihre Mutter etwas geäußert, was Sie auf diesen Gedanken gebracht hat?«
»Nein. Ich weiß nicht, warum.«
»Glauben Sie, sie ist immer noch in Gefahr?«
Sie antwortete nicht. Ihre hellen Augen schauten zum Kiosk hinüber. »Der Inspektor ist da, er erwartet Sie«, bemerkte sie, als ob der Zauber gebrochen sei. Und sie stieg in ihr Abteil, als der Bahnhofsvorsteher pfiff und die Lokomotive Dampfwolken ausstieß.
Castaing stand tatsächlich schon da. Er war früher dran, als er gestern angekündigt hatte, und als er Maigret nicht im Hotel angetroffen hatte, suchte er ihn am Bahnhof. Es war ein bisschen peinlich. Aber warum war es eigentlich peinlich?
Der Zug fuhr ganz langsam an, blieb aber nach einigen Metern mit großem Ruck stehen, während der Kommissar dem Inspektor die Hand gab.
»Was Neues?«
»Nichts Besonderes«, antwortete Castaing. »Aber ich war aus irgendeinem Grund unruhig; ich habe von zwei Frauen geträumt, Mutter und Tochter allein in einem kleinen Haus.«
»Wer tötete wen?«
Jetzt war Castaing verwirrt.
»Wie kommen Sie darauf? In meinem Traum tötete die Mutter die Tochter. Und raten Sie, womit. Mit einem Holzscheit aus dem Kamin!«
»Charles Besson kommt um neun Uhr. Seine Schwiegermutter ist gestorben. Hat Ihnen Lucas telefonisch noch keine
Weitere Kostenlose Bücher