Maigret und die Tänzerin Arlette
sprechen wolle. Immer vier Stufen auf einmal nehmend, war er die Treppe hinauf gestürmt und blickte nun ängstlich um sich. Hatte er sich vielleicht vorher in seinem Sprechzimmer rasch noch eine Spritze gemacht? Es schien ihn nicht im geringsten zu verwundern, daß ihm sein Kollege nicht die Hand gab, und er versuchte auch nicht, ihm die seine hinzustrecken. Seine ganze Haltung war die eines Menschen, der auf Unannehmlichkeiten gefaßt ist.
Aber sobald er das Schlafzimmer betreten hatte, war er sichtlich erleichtert. Die Gräfin war erdrosselt worden. Damit hatte er also nichts zu tun.
Und fast im selben Augenblick hatte er sich wieder ganz in der Gewalt und zeigte sogar einen gewissen Dünkel. »Warum hat man mich und keinen anderen Arzt kommen lassen?« fragte er, wie um das Terrain zu sondieren.
»Weil die Concierge uns gesagt hat, Sie seien der Hausarzt der Gräfin gewesen.«
»Ich habe sie nur ein paarmal gesehen.«
»Weswegen hat sie Sie konsultiert?«
Bloch drehte sich zu seinem Kollegen um, mit einer Miene, als wolle er sagen, daß dieser darüber genausoviel wisse wie er selber.
»Sie werden wohl bereits festgestellt haben, daß sie Morphinistin war. Wenn sie zuviel Morphium genommen hatte, litt sie immer an schweren Depressionen, wie das häufig vorkommt, und in ihrer Todesangst ließ sie mich dann jedesmal rufen. Sie fürchtete nichts so sehr wie das Sterben.«
»Kannten Sie sie schon lange?«
»Ich habe mich erst vor drei Jahren in diesem Viertel niedergelassen.«
Er war kaum älter als dreißig Jahre. Maigret hätte schwören mögen, daß er Junggeselle war und schon, seit der Eröffnung seiner Praxis, ja vielleicht sogar schon als Student, selber dem Morphium verfallen war. Nicht zufällig hatte er sich auf dem Montmartre niedergelassen, und es war nicht schwer zu erraten, aus welchen Kreisen seine Patienten kamen.
Er würde es nicht mehr lange machen, das stand auch fest. Auch auf diesen Vogel lauerte schon eine Katze.
»Was wissen Sie von ihr?«
»Ihr Name und ihre Adresse stehen in meiner Kartothek. Ich weiß, daß sie seit fünfzehn Jahren morphiumsüchtig ist.«
»Wie alt ist sie?«
»Achtundvierzig oder neunundvierzig.«
Wenn man den dort auf dem Bett liegenden verbrauchten Körper mit dem spärlichen, farblosen Haar betrachtete, konnte man es kaum glauben.
»Ist das nicht sehr selten, daß sich eine Morphinistin gleichzeitig dem Trunk ergibt?«
»Das kommt schon vor.«
Seine Hände zitterten leicht, wie die von Trinkern nach einer durchzechten Nacht, und die eine Gesichtshälfte zuckte nervös, so daß die Lippe auf dieser Seite manchmal völlig verzerrt wirkte.
»Sie haben vermutlich versucht, sie zu entwöhnen?«
»Anfangs ja. Aber es war ein fast hoffnungsloser Fall. Ich habe nichts erreichen können. Wochenlang hat sie nichts von sich hören lassen.«
Bloch warf seinem Kollegen einen scheuen Blick zu. Es hatte keinen Zweck, zu lügen. Der Anblick der Toten und die ganze Atmosphäre in der Wohnung verrieten alles deutlich genug.
»Es erübrigt sich wohl, daß ich Ihnen einen langen Vortrag halte. Wenn ein Süchtiger erst einmal an einem bestimmten Punkt angelangt ist, kann er sich, ohne sein Leben ernstlich zu gefährden, absolut nicht mehr der Droge enthalten. Ich weiß nicht, woher sie sich das Morphium beschafft hat. Ich habe sie nie danach gefragt. Zweimal, wenn ich mich recht erinnere, fand ich sie bei meinen Besuchen hier völlig verzweifelt, weil man ihr das so sehnlich Erwartete nicht gebracht hatte, und ich habe ihr dann eine Spritze gemacht.«
»Hat sie Ihnen nie etwas von ihrem Leben ihrer Familie, ihrer Herkunft erzählt?«
»Ich weiß nur, daß sie mit einem Grafen Farnheim legitim verheiratet war. Er war, glaube ich, Österreicher und bedeutend älter als sie. Sie hatten einen großen Besitz an der Côte d’Azur, auf den sie hin und wieder angespielt hat.«
»Noch eine Frage, Doktor: beglich sie Ihre Rechnungen durch Scheck?«
»Nein, bar.«
»Und Sie wissen gar nichts von ihren Freunden, ihrem Umgang und den Leuten, die ihr das Morphium verschafft haben?«
»Nein, gar nichts.«
Maigret drang nicht weiter in ihn, sondern sagte nur: »Ich danke Ihnen. Ich will Sie nicht länger aufhalten.«
Auch diesmal hatte er kein Verlangen, dabeizusein, wenn die Beamten vom Erkennungsdienst kamen und schon gar nicht, den Journalisten Rede und Antwort stehen zu müssen, die gewiß hier erscheinen würden. Es drängte ihn, so schnell wie möglich aus dieser
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