Maigret und die Tänzerin Arlette
vielleicht den Mörder hatte herauf- oder herunterkommen sehen. Zunächst einmal aber ging Maigret in die Loge und bat Madame Boue, das Telefon benutzen zu dürfen, das sich neben dem Bett unter einem Bild von Monsieur Boue in Uniform befand.
»Ist Lucas noch nicht zurück?« fragte er, nachdem er Verbindung mit der Kriminalpolizei bekommen hatte.
Einem anderen Inspektor diktierte er die auf dem Personalausweis eingetragenen Angaben.
»Setz dich mit Moulins in Verbindung. Versuch ‘rauszubekommen, ob sie dort noch Angehörige hat. Irgendwelche Leute, die sie gekannt haben, sind sicher noch ausfindig zu machen. Sollten ihre Eltern noch leben, laß sie benachrichtigen. Ich nehme an, daß sie sich dann gleich hierher aufmachen werden.«
Er ging dann die Straße bis zur Rue Pigalle hinauf und hörte, wie ein Auto vor dem Haus hielt. Es waren die Beamten vom Erkennungsdienst, und er wollte lieber nicht dabei sein, wenn jetzt zwanzig Männer sich in den beiden kleinen Zimmern zu schaffen machten, wo die Leiche noch immer unverändert an ihrem Platz lag.
Zur Linken befand sich eine Bäckerei, zur Rechten eine Weinhandlung. Bei Nacht fiel das Picratt bestimmt schon allein durch sein weit in die Straße hineinleuchtendes Neonschild auf. Am Tage hätte man vorbeigehen können, ohne auch nur zu ahnen, daß dies ein Nachtlokal war.
Es war eine schmale Fassade, eine Tür und ein Fenster nur, und im trüben Licht des Regentages wirkten die Fotos in dem Schaukasten ebenso traurig und trostlos.
Es war schon zwölf Uhr durch, und zu Maigrets Verwunderung war die Tür nicht abgeschlossen. Im Inneren brannte eine elektrische Birne, und eine Frau kehrte den Fußboden zwischen den Tischen.
»Ist der Wirt da?« fragte er.
Ohne eine Spur von Verlegenheit musterte sie ihn, stemmte den Besen in die Seite und fragte: »Weshalb?«
»Ich möchte ihn persönlich sprechen.«
»Er schläft. Ich bin seine Frau.«
Sie war schon über die Fünfzig hinaus, vielleicht näherte sie sich sogar schon den Sechzig. Sie war ziemlich dick, aber trotzdem noch ganz beweglich, und aus ihrem schwammigen Gesicht blickten ihn schöne, kastanienbraune Augen an.
»Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei.«
Sie zeigte sich keineswegs erschrocken.
»Wollen Sie sich bitte setzen?«
Es war dunkel in dem Raum, und das Rot der Wände und Wandbespannungen wirkte fast schwarz. Nur auf die Flaschen an der Bar, die sich in der Nähe der offenstehenden Tür befand, fiel ein wenig Tageslicht. Es war ein langgestreckter, niedriger Saal mit einem schmalen Podium für die Musiker, einem Klavier, einem Akkordeon, das jetzt in seinem Kasten lag, und rings um die Tanzfläche befanden sich, durch etwa ein Meter fünfzig hohe Wände voneinander abgeteilt, eine Art kleiner Logen, in denen die Gäste mehr oder weniger unter sich waren.
»Ist es notwendig, daß ich Fred wecke?«
Sie hatte Pantoffeln an, trug über einem alten Kleid eine graue Schürze und war noch ungewaschen und unfrisiert.
»Sind Sie nachts immer hier?«
Ohne mit der Wimper zu zucken, antwortete sie:
»Ich bin die Toilettenfrau, und außerdem koche ich, wenn die Gäste was essen wollen.«
»Wohnen Sie im Hause?«
»Im Zwischenstock. Hinter der Küche führt eine Treppe zu unserer Wohnung hinauf. Aber wir haben auch noch ein Haus in Bougival; dort sind wir an den Tagen, wenn hier geschlossen ist.«
Nicht die leiseste Beunruhigung war ihr anzumerken. Vielleicht war es ihr nicht ganz geheuer, daß sich ein so hoher Beamter der Polizei hierherbemüht hatte, aber sie wartete ab, was der Besuch bedeuten mochte.
»Gehört Ihnen dieses Kabarett schon lange?«
»Im nächsten Monat werden’s elf Jahre.«
»Haben Sie immer viele Gäste?«
»Mal mehr, mal weniger.«
Er bemerkte eine kleine gedruckte Karte, auf der zu lesen war:
Finish the night at Picratts, the hottest spot in Paris.
Er suchte seine geringen englischen Kenntnisse zusammen und übersetzte:
Beenden Sie die Nacht im Picratt, dem aufregendsten Lokal von Paris.
Das Wort »aufregend« stimmte nicht ganz. Das englische Wort war mehr: das »heißeste« Lokal von Paris, hier in einem ganz besonderen Sinn verstanden.
Sie blickte ihn immer noch ruhig an.
»Möchten Sie nicht etwas trinken?«
Sie wußte genau, daß er es ablehnen würde.
»Wo verteilen Sie diese Karten?«
»Wir geben sie an die Portiers der großen Hotels, die sie ihren Gästen, vor allem den Amerikanern, zustecken. Spät nachts, wenn die Ausländer von
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