Maigret und die Tänzerin Arlette
vorgekommen ist und daß ich ein harmloser Mensch bin.«
Seine eingedrückte Nase und seine zerfetzten Ohren, die den ehemaligen Boxer verrieten, standen in seltsamem Widerspruch zu dieser Behauptung.
»Wenn ich Ihnen versichere, daß niemand an diesem Tisch gesessen hat, dann stimmt das auch. Mein Etablissement ist nur klein. Wir arbeiten hier nur zu wenigen, und ich bin immer da, um nach allem zu sehen. Ich könnte Ihnen genau sagen, wie viele Personen in der letzten Nacht hier gewesen sind. Ich brauchte nur die Kassenbons zu überprüfen, auf denen die Nummern der Tische verzeichnet sind.«
»Arlette hat doch mit ihrem Verehrer am Tisch 5 gesessen?«
»Am Tisch 6. Rechts sind die geraden Nummern: 2, 4, 6, 8, 10, 12. Links die ungeraden.«
»Und wer saß an dem nächsten Tisch?«
»An Nr. 8? Zwei Ehepaare, die erst gegen vier Uhr kamen, Pariser, die noch nie hier gewesen waren, die nicht wußten, wohin sie gehen sollten und rasch merkten, daß dies kein für sie geeignetes Lokal war. Sie haben nur eine Flasche Champagner getrunken und sind dann wieder gegangen. Ich habe fast gleich danach zugemacht.«
»Weder an diesem Tisch noch an irgendeinem anderen haben Sie zwei Männer ohne Frauenbegleitung gesehen, von denen der eine schon älter war und ungefähr so aussehen soll wie Sie?«
Fred, der die Anspielung deutlich verstand, lächelte und antwortete: »Wenn Sie mir endlich klaren Wein einschenkten, könnte ich Ihnen vielleicht nützlich sein. Finden Sie nicht, daß wir lange genug Katze und Maus gespielt haben?«
»Arlette ist tot.«
»Wie?«
Er war sichtlich zusammengezuckt, stand erregt auf und rief nach hinten: »Rosa! Rosa!«
»Ja, ich komme gleich.«
»Arlette ist tot.«
»Was sagst du da?«
Mit einer für ihre Körperfülle erstaunlichen Geschwindigkeit kam sie angestürzt.
»Arlette?« Sie schien es gar nicht fassen zu können.
»Sie ist heute morgen in ihrem Schlafzimmer erdrosselt worden«, sagte Maigret und blickte die beiden dabei fest an.
»Nein, so was! Wer ist denn der Lump, der…«
»Das will ich ja gerade herausbekommen.«
Rosa schneuzte sich, und man merkte, daß sie wirklich dem Weinen nahe war. Mit starren Augen blickte sie auf die an der Wand hängende Fotografie.
»Wie hat das nur passieren können?« fragte Fred, während er zur Bar ging.
Er suchte bedächtig eine Flasche heraus, füllte drei Gläser und reichte das erste seiner Frau. Es war alter Kognak. Stumm stellte er das zweite Glas vor Maigret auf den Tisch, der schließlich einen kleinen Schluck davon trank.
»Sie hat in der vergangenen Nacht zufällig ein Gespräch zwischen zwei Männern belauscht, in dem von einer Gräfin die Rede war.«
»Was für eine Gräfin?«
»Weiter weiß ich auch nichts darüber. Einer der beiden Männer soll Oskar heißen.«
Da Fred sich nicht rührte, fuhr Maigret fort:
»Sie ist dann von hier zum Polizeirevier gegangen, um dort zu melden, was sie gehört hatte, und man hat sie von dort zum Quai des Orfevres gebracht.«
»Und deswegen hat man sie umgebracht?«
»Wahrscheinlich.«
»Hast du zwei Männer zusammen gesehen, Rosa?«
Sie verneinte es. Sie wirkten beide ehrlich überrascht und völlig verstört.
»Ich schwöre Ihnen, Kommissar Maigret, wenn die beiden Männer hier gewesen wären, würde ich es wissen und es Ihnen sagen. Wir brauchen uns doch gegenseitig nichts vorzumachen. Sie wissen genau, wie’s in einem Lokal dieser Art zugeht. Die Leute kommen nicht her, um erstklassige Vorführungen zu sehen oder um zu den Klängen einer hervorragenden Jazzmusik zu tanzen. Und ebensowenig ist das hier auch ein Treffpunkt der eleganten Welt. Sie haben sicherlich unsere Karte gelesen.
Die Leute gehen erst in andere Lokale, weil sie irgend etwas Prickelndes suchen. Wenn sie’s dort finden, kommen sie nicht her. Aber wenn sich ihnen da nicht das bietet, was sie suchen, landen sie schließlich meistens bei uns und haben dann immer schon ganz tüchtig geladen. Die meisten Nachtchauffeure machen gemeinsame Sache mit mir und bekommen dafür ein gutes Trinkgeld. Einige Portiers der großen Nachtlokale flüstern ihren Gästen, wenn sie fortgehen, unsere Adresse ins Ohr.
Vor allem kommen Ausländer zu uns, die sich etwas besonders Pikantes von dem Besuch hier versprechen.
Aber alles Pikante, was es hier zu sehen gab, war Arlette, die sich beim Tanzen auszog. In dem Augenblick, wo ihr Kleid ganz fiel – es war immer nur eine Viertelsekunde –, sahen sie sie ganz nackt. Um keine
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