Maigret und die Unbekannte
ergab das eine recht beträchtliche Kilometerzahl. Unwillkürlich stellte Maigret es sich vor, wie Lognon unermüdlich in der Nacht und dann in der Dämmerung herumlief, einer Ameise gleich, die eine zu schwere Last trägt, die aber dennoch nichts von ihrem Weg abbringt.
Kein anderer Inspektor hätte sich mit solcher Inbrunst der Sache angenommen, ohne dabei eine Einzelheit zu vergessen, ohne etwas dem Zufall zu überlassen, und trotzdem würde der arme Lognon es nie erreichen, was seit zwanzig Jahren sein brennender Ehrgeiz war, eines Tages am Quai des Orfevres zu landen.
Schuld daran war zum Teil sein grämliches Wesen, aber auch, daß ihm die unerläßliche Vorbildung fehlte und daß er bei allen Prüfungen durchgefallen war.
»Was hat der Barmixer gesagt?«
Wieder ein anderes Stück Papier, mit Namen, Adresse, einigen Notizen. Lognon brauchte sie aber erst gar nicht durchzulesen, er kannte sie bereits auswendig.
»Er hat sie in der Nähe der Tür stehen sehen. Der Geschäftsführer ist auf sie zugegangen und hat ihr mit halblauter Stimme etwas gesagt. Sie hat den Kopf geschüttelt. Zweifellos hat er sie gefragt, an weichem Tisch sie erwartet werde. Dann hat sie sich durch die Schar der Gäste hindurchgedrängt. Man tanzte nicht nur auf der Tanzfläche, sondern auch zwischen den Tischen.«
»Hat sie mit der jungen Frau gesprochen?«
»Es hat eine Weile gedauert, bis sie an sie herankam, denn sie tanzte ebenfalls. Aber dann haben sie sich ziemlich lange unterhalten. Zweimal hat Santoni, der schon ganz ungeduldig war, das Gespräch unterbrochen.«
»Hat die junge Frau ihr etwas gegeben?«
»Ich habe den Barmixer danach gefragt, aber er hat es mir nicht beantworten können.«
»Sah es so aus, als ob sie sich zankten?«
»Madame Santoni scheint etwas zurückhaltend, wenn nicht kühl gewesen zu sein, und sie hat mehrmals den Kopf geschüttelt. Dann hat der Barmixer das junge Mädchen in dem blauen Kleid aus den Augen verloren.«
»Mit dem Geschäftsführer haben Sie wohl nicht gesprochen?«
Es wurde fast zu einem Spiel.
»Er wohnt in der Rue Caulain-Court, ganz oben. Auch er schlief noch.«
Selbst dorthin also war Lognon gegangen!
»Er hat mir die Aussagen des Barmixers bestätigt. Er ist auf das junge Mädchen zugegangen, um sie zu fragen, wen sie suche, und sie hat ihm geantwortet, sie sei eine Freundin der Braut und habe ihr nur etwas zu sagen.«
Diesmal erhob sich Lognon, was bedeutete, daß er seinen Sack geleert hatte.
»Sie haben ganz ausgezeichnet gearbeitet, mein Lieber.«
»Ich habe nur getan, was ich tun mußte.«
»So, und jetzt legen Sie sich aber ins Bett. Sie müssen etwas für Ihre Gesundheit tun.«
»Es ist nur eine Erkältung.«
»Ja, aber wenn Sie nicht vorsichtig sind, kann es eine Bronchitis werden.«
»Ich habe jeden Winter eine Bronchitis gehabt, aber mich deswegen nie ins Bett gelegt.«
Es war ein Kreuz mit Lognon. Er hatte im Schweiß seines Angesichts, das mußte man anerkennen, eine ganze Anzahl wahrscheinlich äußerst wertvoller Informationen zusammengetragen. Hätte einer seiner Inspektoren Maigret diese Information gebracht, hätte der Kommissar sofort ein paar andere auf die Jagd geschickt, um sie soweit wie nur möglich auszuwerten. Ein Mann kann nun einmal nicht alles allein machen. Aber wenn der Kommissar es mit Lognon so machte, würde der Unselige das Gefühl haben, man nehme ihm die Butter vom Brot.
Er war todmüde, heiser, von seiner Erkältung sehr mitgenommen. In drei Nächten hatte er insgesamt nicht mehr als sieben oder acht Stunden geschlafen. Man mußte ihn wohl oder übel weitermachen lassen, aber er würde sich trotzdem als Opfer betrachten, als ein armer Mensch, dem man die undankbarsten Aufgaben überläßt und den man im letzten Augenblick um den wohlverdienten Erfolg bringt.
»Was meinen Sie dazu?«
»Falls Sie nicht die Absicht haben, jemand anders…«
»Nein, ich habe das nur Ihretwegen gesagt, damit Sie sich etwas ausruhen.«
»Zum Ausruhen habe ich noch Zeit genug, wenn ich pensioniert werde. Ich konnte noch nicht zur Mairie des 18. Arrondissements gehen, wo die Hochzeit stattgefunden hat, auch nicht zum Hotel Washington, wo die jetzige Madame Santoni vor ihrer Verheiratung gewohnt hat. Ich nehme an, ich kann dort erfahren, wo sie früher gelebt hat, und so die Adresse der Toten herausbekommen.«
»In den letzten beiden Monaten hat sie in der Rue de Clichy bei einer Madame Cremieux als Untermieterin gewohnt.«
Lognon verkniff die
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