Maigret und die Unbekannte
aus dem Nebenzimmer:
»Es ist nichts über sie bekannt.«
»Es tut mir leid, mein Lieber. Aber ich werde mich mit Madame Santoni befassen. Es wird freilich eine Weile dauern, bis ich sie verhören kann, denn nach den Zeitungen ist das junge Paar in Italien.«
»Das macht nichts.«
Die Uhr auf dem Kamin, die gleiche schwarze Uhr wie in Maigrets Büro und in dem aller Kommissare, zeigte wenige Minuten vor zwölf.
»Wollen wir einen Schnaps zusammen trinken?«
»Ich kann jetzt leider hier nicht fort«, antwortete Priollet. »Ich erwarte jemanden.«
Langsam ging Maigret durch den Flur und blickte verstimmt durch die Glaswand des Wartezimmers, wo zwei oder drei Leute saßen. Ein paar Minuten später stieg er eine schmale Treppe hinauf und betrat das Laboratorium, das sich unter dem Dach des Justizpalastes befand. Moers saß über ein Mikroskop gebeugt.
»Hast du die Kleidungsstücke untersucht, die ich dir geschickt habe?«
Hier herrschte nie die geringste Erregung. Männer in grauen Kitteln waren mit minutiösen Arbeiten beschäftigt, für die sie komplizierte Apparate brauchten.
Es war eine friedliche Atmosphäre, und Moers wirkte wie die Ruhe selber.
»Das schwarze Kleid«, sagte er, »ist nie in eine Reinigungsanstalt geschickt worden, aber man hat die Flecken oft mit Benzin entfernt und es regelmäßig ausgebürstet. Trotzdem blieben in dem Stoff Staubpartikel haften. Ich habe sie analysiert und auch einige Flecke untersucht, die durch das Benzin nicht herausgegangen sind. Dabei habe ich grüne Farbe entdeckt.«
»Sonst nichts?«
»Nur noch ein paar Sandkörner.«
»Flußsand?«
»Meersand, wie man ihn an der normannischen Küste findet.«
»Ist das nicht der gleiche wie der am Mittelmeer?«
»Nein.«
Maigret blieb noch eine Weile im Laboratorium, und als er dann wieder hinunterkam, war es schon nach zwölf Uhr, und die Inspektoren gingen gerade zum Mittagessen.
»Lucas sucht Sie«, sagte einer von ihnen, Jussieu, der in seiner Abteilung arbeitete.
Lucas hatte bereits seinen Hut auf.
»Ich wollte eben gehen. Ich habe Ihnen eine Mitteilung auf den Schreibtisch gelegt. Feret bittet, daß Sie ihn sobald wie möglich anrufen. Es scheint wegen des ermordeten jungen Mädchens zu sein.«
Maigret ging in sein Büro und nahm den Hörer ab.
»Verbinden Sie mich mit der Polizei in Nizza.«
Noch nie hatte man nach der Veröffentlichung eines Fotos in den Zeitungen so wenige Anrufe bekommen, ja, bisher hatte nur Rose, das kleine Dienstmädchen aus der Rue de Clichy, sich gemeldet.
»Hallo! Feret?«
»Sind Sie’s, Chef?«
Inspektor Feret hatte bei Maigret gearbeitet, bevor er auf seinen Wunsch der Gesundheit seiner Frau wegen nach Nizza versetzt worden war.
»Ich bin heute früh wegen des Falls, mit dem Sie sich befassen, angerufen worden. Wissen Sie übrigens den Namen der Ermordeten?«
»Sie scheint Luise Laboine zu heißen.«
»Das stimmt. Soll ich Ihnen gleich die Einzelheiten sagen? Es ist allerdings noch nicht viel. Ich wollte erst Ihre Instruktionen abwarten, bevor ich genauere Recherchen anstellte. Heute morgen um halb neun hat mich eine Fischhändlerin, eine gewisse Alice Feynerou, angerufen… Hallo… hören Sie?«
»Ich höre.«
Maigret notierte sich für alle Fälle den Namen auf einem der Zettel Lognons.
»Sie behauptet, die Tote auf dem Bild erkannt zu haben, das der Eclaureur heute früh veröffentlicht hat. Als das junge Mädchen noch ein Kind war, wohnte sie mit ihrer Mutter im Nachbarhaus der Fischhändlerin.«
»Hat sie nähere Angaben über sie machen können?«
»Die Mutter scheint immer in Geldschwierigkeiten gewesen zu sein. Daran erinnert sie sich vor allem. ›Leute, denen man nie etwas stunden sollte‹, hat sie zu mir gesagt.«
»Was weiß sie von dem jungen Mädchen?«
»Mutter und Tochter bewohnten eine ziemlich komfortable Wohnung unweit der Avenue Clemenceau. Die Mutter muß einmal eine schöne Frau gewesen sein. Sie war älter, als es für gewöhnlich die Mutter eines Mädchens von fünfzehn oder sechzehn Jahren ist. Sie war damals schon weit über die Fünfzig hinaus.«
»Wovon lebten die beiden?«
»Das war das große Geheimnis. Die Mutter zog sich immer sehr elegant an, ging meistens nach dem Mittagessen aus und kam erst spät in der Nacht wieder.«
»Hatte sie einen Liebhaber?«
»Wohl nicht. Sonst hätte mir die Fischhändlerin das nur allzugern berichtet.«
»Sind sie zusammen aus dem Viertel fortgezogen?«
»Es scheint so. Eines schönen Tages sind
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