Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
Aussage haltlos. Die Tatsachen schienen für sich zu sprechen.
    Aber gerade in solchen Fällen sieht die Polizei sich meistens nicht in der Lage, den Ableugnungen des Angeklagten einen handfesten Beweis entgegenzusetzen.
    Und hier gab es keinen! Der Revolver war den Pariser Waffenhändlern unbekannt. Also war nicht nachzuweisen, daß er Anna Gorskin gehörte.
    Daß sie im Augenblick des Verbrechens im Majestic war? Man betritt die großen Hotels und bewegt sich darin wie auf der Straße. Sie behauptete, jemanden zu suchen? Das war nicht von vornherein unmöglich.
    Niemand hatte sie schießen sehen. Von dem Brief, den Pietr, der Lette, verbrannt hatte, war nichts übriggeblieben.
    Und Vermutungen? Man konnte so viele zusammenbringen, wie man wollte. Die Geschworenen verurteilen nicht aufgrund von Indizien, sie mißtrauen den noch so deutlichen Beweisen aus Furcht vor dem Gespenst des Justizirrtums, das die Verteidigung immer wieder an die Wand malt.
    Maigret spielte seine letzte Karte aus.
    »Man hat mir gemeldet, daß der Lette in Fécamp ist …«
    Dieses Mal saß der Schlag. Anna Gorskin zitterte. Aber dann sagte sie sich, daß er log, gewann ihre Fassung wieder und bemerkte nur:
    »Na und?«
    »In einem anonymen Brief, den wir gerade überprüfen, wird behauptet, daß er sich in einer Villa, bei einem gewissen Swaan verborgen hält …«
    Sie hob ihre dunklen Augen zu ihm auf, die ernst, fast tragisch waren.
     
    Maigret blickte unwillkürlich auf ihre Fesseln und stellte fest, daß sie, wie ihre Mutter fürchtete, ebenfalls an Wassersucht litt.
    Die ungekämmten Haare ließen die Kopfhaut durchschimmern. Ihr schwarzes Kleid war schmutzig.
    Ein auffallender Flaum überschattete ihre Oberlippe.
    Dennoch war sie schön, von einer gewöhnlichen, animalischen Schönheit. Die Augen auf den Kommissar gerichtet, die Mundwinkel verächtlich herabgezogen, ein wenig zusammengekauert oder vielmehr, weil sie Gefahr witterte, geduckt, brummte sie:
    »Wenn Sie das alles wissen, warum fragen Sie mich dann?«
    Ihr Blick hellte sich auf, und mit einem beleidigenden Lachen fügte sie hinzu:
    »Sie fürchten wohl, sie bloßzustellen! … Das ist es, nicht wahr? … Ha, ha! … Ich, ich zähle nicht … Eine Ausländerin … Ein Mädchen, das ein armseliges Leben im Getto lebt … Aber sie! Oh! …«
    Von ihrem Temperament mitgerissen, sprach sie weiter. Maigret spürte, daß seine Aufmerksamkeit sie einschüchtern könnte, tat gleichgültig und schaute woanders hin.
    »Oh, nichts! … Hören Sie? …« schrie sie dann. »Hauen Sie ab! Lassen Sie mich in Ruhe! Nichts, sage ich Ihnen … Nichts!«
    Und sie warf sich mit einer Bewegung auf die Erde, die unmöglich vorauszusehen war, selbst wenn man mit solchen Frauen Erfahrung hatte.
    Ein hysterischer Anfall! Sie war völlig entstellt. Ihre Glieder verkrampften sich, und heftige Schauer schüttelten ihren Körper.
    War sie einen Augenblick zuvor noch schön gewesen, so wurde sie jetzt häßlich, riß sich die Haare büschelweise aus, ohne an Schmerzen zu denken.
    Maigret rührte sich nicht. Es war der hundertste Anfall dieser Art, den er erlebte. Er nahm den Wasserkrug vom Boden auf. Er war leer.
    Er rief einen Wärter.
    »Füllen Sie ihn schnell …«
    Wenig später goß er das kalte Wasser der keuchenden Jüdin ins Gesicht, die gierig die Lippen öffnete, ihn ansah, ohne ihn zu erkennen, und schließlich in tiefe Apathie verfiel.
    Hin und wieder glitt ein Schauer über ihre Haut.
    Maigret klappte das vorschriftsmäßig an die Wand gelehnte Bett herunter, rückte die hauchdünne Matratze zurecht und hob Anna Gorskin mühsam hinauf.
    Er tat das alles ohne eine Spur von Rachsucht, und mit einer Sanftheit, die man ihm nicht zugetraut hätte, zog er das Kleid über die Knie der Unglücklichen, fühlte ihren Puls, blieb lange an der Pritsche stehen und betrachtete sie.
    So gesehen, hatte sie das abgespannte Gesicht einer fünfunddreißigjährigen Frau. Vor allem die Stirn war von feinen Falten durchzogen, die man sonst nicht bemerkte.
    Die molligen Hände dagegen mit den schlecht lackierten Fingernägeln waren äußerst fein geformt.
    Wie ein Mann, der nicht recht weiß, was er tun soll, stopfte er sich mit langsamen, kleinen Bewegungen des Zeigefingers eine Pfeife. Eine Weile ging er in der Zelle, deren Tür halb offen stand, auf und ab. Plötzlich drehte er sich erstaunt um und traute seinen Sinnen kaum.
    Anna Gorskin hatte sich die Decke über das Gesicht gezogen. Sie war nun nur noch

Weitere Kostenlose Bücher