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Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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andere sah verstohlen seinen Bruder an. In seinem Blick lag Vertrauen und Bewunderung.
    Der Name des Fotografen war eingedruckt: K. Akel, Pleskau.
    Das zweite Bild war noch größer und bezeichnender. Es war während eines Festessens aufgenommen worden. Drei lange, parallel angeordnete Tische voller Teller und Flaschen und im Hintergrund vor einer grauen Wand ein Arrangement aus sechs Fahnen, einem Wappenschild, dessen Einzelheiten man schlecht erkennen konnte, zwei gekreuzten Degen und einem Jagdhorn.
    Die Gäste waren Studenten zwischen siebzehn und zwanzig Jahren. Sie trugen Mützen mit schmalem Schirm und silberner Biese, deren Samtbezug von jenem bleiernen Grün sein mußte, das die Deutschen und ihre Nachbarn im Norden so schätzen.
    Ihr Haar war kurz geschnitten. Die Mehrzahl der Gesichter hatte sehr ausgeprägte Züge.
    Einige lächelten arglos ins Objektiv. Andere hielten ihre merkwürdig geformten, hölzernen Bierseidel in der Hand. Hier und da hatte einer die Augen wegen des Magnesiumblitzes geschlossen. In der Mitte des Tisches erhob sich recht auffällig eine Schiefertafel mit der Aufschrift:
     
    Korporation Ugala
    Dorpat
     
    Es handelte sich um eine dieser Studentenverbindungen, wie es sie in allen Universitätsstädten der Welt gibt.
    Vor dem Arrangement stand ein junger Mann, der sich von allen anderen unterschied.
    Zum einen war er barhäuptig, und sein glattrasierter Schädel verlieh seiner Physiognomie ein besonderes Gepräge.
    Und zum anderen war er nicht wie die meisten seiner Kameraden im Straßenanzug, sondern trug einen Frack zur Schau, was etwas linkisch wirkte, da er in den Schultern noch zu schmal war. Auf der weißen Weste prangte eine breite Schärpe, wie das große Band der Ehrenlegion. Das waren die Insignien des Vorsitzenden.
    Und auffallend war, daß sich die Mehrheit der Anwesenden dem Fotografen zuwandte, während die Schüchternen instinktiv ihren jungen Chef anschauten.
    Und derjenige, der ihn am nachdrücklichsten betrachtete, war sein Doppelgänger, der neben ihm saß und sich nahezu den Hals verrenken mußte, um ihn nicht aus dem Blickfeld zu verlieren.
    Der Student mit dem breiten Band und der Student, der ihn mit den Augen verschlang, waren unstreitig die beiden Jungs vor dem Haus in Pleskau, also die Söhne des Schneiders Johannson.
    Das Diplom war auf Pergament und in Latein abgefaßt und sollte wohl eine alte Urkunde nachahmen. Mit Hilfe altertümelnder Formulierungen weihte es einen gewissen Hans Johannson, Student der Philosophie, zum Mitglied der Korporation Ugala. Und als Unterschrift stand zu lesen: Der Großmeister der Korporation, Pietr Johannson.
    In derselben Leinentasche befand sich noch ein zweites verschnürtes Päckchen, das ebenfalls Fotos und russisch geschriebene Briefe enthielt.
    Die Bilder waren von einem Kaufmann aus Wilna unterzeichnet. Auf einem sah man eine etwa fünfzigjährige, fette, mürrische Jüdin, die wie eine Reliquienfigur mit Perlen behängt war.
    Auf den ersten Blick erkannte man die Ähnlichkeit mit Anna Gorskin. Übrigens zeigte ein anderes Porträt das junge Mädchen selbst, als es etwa sechzehn Jahre alt war, mit einer Hermelinmütze auf dem Kopf.
    Was die Briefe anbelangte, so trugen sie in drei Sprachen die Firmenaufschrift:
     
    Ephraim Gorskin
    Pelzgroßhandel
    Spezialisiert auf sibirische Zobelfelle
    Wilna – Warschau
     
    Maigret war nicht in der Lage, die handgeschriebenen Texte zu übersetzen. Er stellte nur fest, daß ein Satz, der in mehreren Briefen wiederkehrte, dick unterstrichen war.
    Er steckte die Dokumente in seine Taschen und nahm aus Gewissenhaftigkeit eine letzte Überprüfung des Zimmers vor. Es war zu lange von ein und derselben Person bewohnt, um nicht seinen anonymen Hotelcharakter verloren zu haben.
    Von den belanglosesten Gegenständen, von den Flecken auf der Tapete und selbst von der Wäsche konnte man die ganze Geschichte Anna Gorskins ablesen.
    Überall lagen Haare herum, dick und fettig.
    Hunderte von Zigarettenkippen. Tüten mit Zwieback, Kekskrümel auf dem Boden. Ein Ingwertopf. Ein großes Einweckglas, das Reste einer eingemachten Gans enthielt und ein polnisches Etikett trug. Kaviar.
    Wodka, Whisky, ein Döschen, an dem Maigret roch und in dem noch ein paar getrocknete Blättchen nicht verarbeiteten Opiums waren.
    Eine halbe Stunde später wurden ihm im Präsidium die Briefe übersetzt, und bei der flüchtigen Lektüre behielt er Sätze wie:
    ›Die Beine Deiner Mutter schwellen mehr und mehr an.

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