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Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ihr Gesicht hinab.
    Ein Dolmetscher des Hotels trat mit einem Schutzmann aus dem Aufzug mit der zerbrochenen Scheibe.
    »Lassen Sie den Flur räumen!« befahl Maigret.
    Unklare Proteste wurden hinter ihm laut. Man hatte den Eindruck, als fülle er allein den ganzen Gang aus.
    Gewichtig und ungerührt trat er zu dem Körper Mortimers.
    »Nun?«
    Der Arzt war ein Deutscher, der kaum französisch konnte und eine lange Erklärung in einem Gemisch beider Sprachen abgab.
    Die untere Gesichtshälfte des Milliardärs war buchstäblich weggerissen. Es war nur noch eine breite schwärzlichrote Wunde.
    Trotzdem öffnete sich der Mund, ein Mund, der schon kein Mund mehr war, und gab ein Stammeln, vermischt mit Blut, von sich.
    Niemand verstand es, weder Maigret noch der Arzt, ein Professor an der Bonner Universität, wie man später erfuhr, und auch nicht die zwei oder drei nahe dabeistehenden Personen.
    Der Pelz war mit Zigarrenasche bestreut. Eine Hand war weit geöffnet, die Finger gespreizt.
    »Tot? …« fragte der Kommissar.
    Der Doktor schüttelte den Kopf, beide schwiegen.
    Der Lärm im Flur ebbte ab. Schritt für Schritt gelang es dem Polizisten, die aufdringlichen Schaulustigen zurückzudrängen.
    Die Reste von Mortimers Lippen zogen sich etwas zusammen und fielen wieder auseinander. Der Arzt blieb noch ein paar Sekunden reglos neben ihm knien.
    Dann erhob er sich und sprach, wie von einer schweren Last befreit:
    »Tot, oui … Es war schwer …«
    Jemand war auf den Rand des Pelzes getreten, so daß man den deutlichen Abdruck einer Schuhsohle erkennen konnte.
    Im Türrahmen erschien der Polizist mit seinen silbernen Tressen, verharrte einen Moment schweigend und fragte dann:
    »Was soll ich …?«
    »Schicken Sie alle Leute weg, ohne Ausnahme …«, befahl Maigret.
    »Die Frau heult …«
    »Lassen Sie sie heulen …«
    Und er stellte sich vor den Kamin, in dem kein Feuer brannte.

14
    Die Korporation Ugala
     
    Kommissar Maigret hatte das Fenster geöffnet und. rauchte ununterbrochen, dennoch war der Gestank für ihn kaum zu ertragen.
    Roch es im ganzen Hotel Roi de Sicile so? Oder auf der Straße? Man nahm diesen Geruch schon wahr, wenn der Hotelier mit dem schwarzen Käppchen seinen Schalter halb öffnete. Und je höher man im Treppenhaus stieg, desto stärker wurde er.
    Im Zimmer von Anna Gorskin war er penetrant. Sicher, überall lagen Essensreste herum. Die schmutzig-rosigen Würste waren weich und von Knoblauch durchsetzt. Auf einem Teller schwammen gebackene Fische in einer Essigsauce.
    Russische Zigarettenkippen. Teepfützen in einem halben Dutzend Tassen.
    Bettlaken und Wäsche, die noch feucht schienen, die säuerlichen Gerüche eines nie gelüfteten Schlafzimmers.
    In der Matratze, die er aufgetrennt hatte, entdeckte Maigret eine kleine graue Leinentasche.
    Er zog ein paar Fotos und eine Urkunde heraus.
    Eines der Bilder zeigte eine abschüssige, kopfsteingepflasterte Straße, die von alten Giebelhäusern gesäumt wurde, wie man sie in Holland sieht, allerdings weiß getüncht, so daß sich die schwarzen Einfassungen der Fenster und Türen sowie die Gesimse scharf abzeichneten.
    Das Haus im Vordergrund trug eine Inschrift, deren Buchstaben an gotische und kyrillische Schriftzeichen erinnerten:
     
    6
     
    Rütsep
    Max Johannson
    Tailor
     
    Das Gebäude war ziemlich groß. Aus seinem Giebel ragte ein Balken heraus, an dem ein Flaschenzug hing, der einst dazu gedient hatte, das Getreide auf den Speicher zu hieven. Vor dem Erdgeschoß war eine sechsstufige Freitreppe mit einem Eisengeländer.
    Auf diesem Treppenabsatz gruppierte sich eine Familie um einen etwa vierzigjährigen, kleinen, grau und matt wirkenden Mann – sicherlich den Schneider –, der ernst und uninteressiert dreinblickte.
    Seine Frau saß, in ein Satinkleid gezwängt, auf einem geschnitzten Stuhl. Sie lächelte bereitwillig den Fotografen an, nur die Lippen waren ein wenig zusammengekniffen, um ›vornehm auszusehen‹.
    Vor ihnen schließlich zwei Kinder, die sich an der Hand hielten. Es waren zwei Jungen zwischen sechs und acht Jahren, mit Hosen, die bis an die Waden reichten, schwarzen Strümpfen, weißen, bestickten Matrosenkragen und Armelaufschlägen.
    Dasselbe Alter! Dieselbe Größe! Eine frappierende Ähnlichkeit miteinander und mit dem Schneider.
    Man konnte jedoch unmöglich den Unterschied ihrer Charaktere übersehen.
    Der eine zeigte einen entschlossenen Ausdruck, blickte irgendwie trotzig und aggressiv in den Apparat.
    Der

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