Maigret verteidigt sich
schon einmal in Begleitung ihres Onkels hier?«
»Einmal im Anfang. Bei den meisten jungen Mädchen ist das fast eine Tradition. Am ersten Abend wollen die Eltern sich selber überzeugen… Monsieur Prieur hat uns alle in Erstaunen versetzt. Man war darauf gefaßt, eine feierliche Persönlichkeit zu sehen. Kennen Sie ihn?«
»Nein.«
»Er ist Berichterstatter im Staatsrat, und man behauptet, er sei einer unserer besten Juristen. Nun, stellen Sie sich einen Mann von fünfzig oder fünfundfünfzig Jahren vor, breitschultrig, mit einem verwitterten Gesicht wie dem eines Bauern, einem kurzen, harten Bart, der Wangen und Kinn bedeckt, und mit Haarbüscheln in den Ohren. Ein sanfter Eber… Er hat einen doppelten Whisky bestellt. Kaum eine Viertelstunde später war er auf der Tanzfläche und tanzte mit seiner Nichte. Er ist zwei Stunden geblieben, und als er ging, hat er mich beglückwünscht und hinzugefügt, wenn er nicht sehr früh aufzustehen gewohnt sei, wäre er noch länger geblieben.«
»Man macht sich falsche Vorstellungen von den Menschen… Ist er nicht noch einmal dagewesen?«
»Nein.«
»In der letzten Nacht auch nicht?«
»Bestimmt nicht.«
»Mit wem war Mademoiselle Prieur in der letzten Nacht zusammen?«
»In der letzten Nacht? Moment… Ich muß erst nachdenken, wer an den verschiedenen Tischen saß… In der letzten Nacht habe ich sie nicht gesehen.«
»Ihre Freundin auch nicht?«
»Meinen Sie Martine Bouet? Nein… die auch nicht.«
»Ich danke Ihnen.«
»Möchten Sie immer noch Mitglied werden? Haben Sie in der Liste Leute gefunden, die als Bürgen für Sie in Frage kämen?«
»Mehr als genug… Ich werde es mir noch überlegen… Ich sehe, Ihre Mitglieder beginnen zu erscheinen…«
»Es ist tatsächlich Zeit, daß ich hinuntergehe.«
»Übrigens, kennen Sie Manuel?«
»Den Schauspieler?«
»Manuel Palmari.«
»Was tut er?«
»Nichts.«
»Ich wüßte nicht… Nein. Müßte ich ihn kennen?«
»Besser nicht… Noch einmal besten Dank, Monsieur Landry.«
»Wollen Sie nicht einen Blick in den Keller werfen? Sie auch nicht, Madame? Nun, dann gestatten Sie…«
Madame Maigret wartete geduldig, bis ihr Mann die Rechnung bezahlt hatte und sie draußen waren, ehe sie ihn fragte: »Hast du erfahren, was du wolltest?«
»Ich habe viele Dinge erfahren, aber ich bin mir über ihre Bedeutung noch nicht klar. Da wir einmal in dem Viertel sind, laß uns durch die Rue des Acacias gehen.«
Unterwegs seufzte er:
»Vorausgesetzt, daß Nicole Prieur nicht die Lust verspürt, heute abend im Klub zu tanzen.«
»Glaubst du, er wird ihr sagen, daß du da warst?«
»Er wird sie bestimmt davon in Kenntnis setzen und ihr sagen, ich hätte mich genau bei ihm nach ihr erkundigt. Wenn sie es ihrem Onkel berichtet, können wir morgen unsere Koffer packen.«
Er sagte das in einem so leichten Ton, daß sie seinen Arm stärker drückte und bemerkte:
»Bist du traurig? Versuchst du es mir zu verbergen?«
»Nein. So wie die Dinge liegen, frage ich mich, was besser wäre: zu gehen oder weiterzumachen.«
»War der Schlag heute morgen sehr hart?«
»Es hat mir gereicht. Ich war zum erstenmal in meinem Leben der Angeklagte. Ich frage mich, ob ich noch den Mut habe, gewisse Verhöre vorzunehmen.«
»Warum hast du dich nicht verteidigt?«
»Weil das nichts genützt und ich riskiert hätte, einen Wutanfall zu kriegen.«
»Glaubst du, daß dieses Mädchen…?«
»Die zählt nicht. Sie ist nur eine Schachfigur. Alles ist zu gut eingefädelt. Man hat sogar die Zeit und die beiden möglichen Zeugenaussagen einkalkuliert. Erst Martine Bouet. Die Telefonmünze. Eine einzige. Dann Desiré. Sie hat bestimmt nicht wie eine Betrunkene mit ihm gesprochen. Mit mir sprach sie halblaut, und er konnte sie nicht verstehen. Die Bars, in denen ich sie angeblich zum Trinken animiert habe… Die Beschreibung, die sie von ihnen gibt, paßt auf fünfzig Bars und Keller in Saint-Germain-des-Près, und in mindestens einem Dutzend dieser Lokale herrscht ein solches Gedränge, daß wir unbemerkt bleiben konnten.
Das Hotel schließlich, in dem ich tatsächlich mit ihr in den zweiten Stock hinaufgegangen bin und wo sie es geschickt genug verstanden hat, mich gut zehn Minuten in ihrem Zimmer festzuhalten…«
»Hast du eine Idee?«
»Nur eine sehr verschwommene. Viele. Leider ist eine die richtige, und es ist wichtig, die richtige herauszufinden.«
Die Rue des Acacias war fast menschenleer. Einige Fenster waren noch erleuchtet,
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