Maigret verteidigt sich
den vor ihm sitzenden Maigret anzublicken. Ihm war beklommen zumute wie vor einem Tier, das man hat erlegen wollen und das man nur angeschossen hat.
»Das wird wahrscheinlich nur einige Tage dauern. Nach den Vorschriften wird man Ihnen die Zeit geben, sich zu verteidigen. Ich glaube zu wissen, daß Sie Ihre Version der Ereignisse bereits gegeben haben.«
Maigret erhob sich schwerfällig.
»Ich danke Ihnen, Herr Direktor.«
Und dann ging er zum größten Erstaunen des Leiters der Kriminalpolizei zu dem ersten Fenster.
»Man kann sie jetzt wohl wieder öffnen?«
Er öffnete eins nach dem anderen und ließ sich Zeit, die von draußen kommende warme Luft einzuatmen, Menschen, die sich in dem vertrauten Pariser Stadtbild bewegten, zu betrachten.
»Ihr Urlaub beginnt sofort, nicht wahr?«
Er nickte und ging hinaus. Der Leiter der Kriminalpolizei reichte ihm nicht die Hand, hielt sie aber halb ausgestreckt, bereit, die des Kommissars zu ergreifen, wenn dieser ihm die seine reichen wollte. Aber Maigret tat es nicht. Er ließ sich auch nicht, wie am Tage zuvor, in seinem Büro in einen Sessel fallen, sondern ging sofort in das Büro der Inspektoren.
»Lucas! Janvier!«
Barnacle sah er nicht.
»Kommt mal zu mir herein, Kinder. Ihr werdet jetzt einige Zeit ohne mich arbeiten.«
Janvier wurde blaß und preßte die Kiefer zusammen – denn er hatte verstanden, was das bedeutete. Er brachte nicht ein Wort heraus.
»Ich bin erschöpft, vielleicht krank. Die gütige Mutter Verwaltung sorgt sich um meine Gesundheit und erlaubt mir, mich auszuruhen.«
Er ging auf und ab, um seine engsten Mitarbeiter nicht merken zu lassen, daß seine Augen feucht waren.
»Ihr werdet euch weiter mit der Juwelenaffäre befassen. Ihr wißt beide, was ich davon halte. Und ihr wißt, daß ich dickköpfig bin.«
Er legte seine kalte Pfeife in den großen Glasaschenbecher und stopfte sich eine andere.
»Man weiß höheren Orts sehr genau, was ihr gestern getan habt. Man weiß es natürlich auch von mir. Sobald Barnacle zurückkommt, muß es ihm gesagt werden.
Wahrscheinlich werdet ihr beide beschattet, wie man mich beschattet hat und weiter beschatten wird. Es würde mir nichts nützen, wenn disziplinarische Maßnahmen gegen euch ergriffen werden… Vergeßt darum, was ihr von dieser Affäre wißt!«
Er lächelte sie an.
»So, das wär’s. Ich bin fertig. Es ist für mich nicht so schwer gewesen wie für den Direktor.«
Er ging zu dem Sessel, auf den er seinen Hut gelegt hatte.
»Auf Wiedersehen, Kinder!«
Janvier fand als erster die Sprache wieder.
»Wissen Sie, Chef…«
»Ja?«
»Ich war im ›Clou Doré‹. Ich habe das Foto gezeigt. Niemand dort kennt sie.«
»Das hat keine Bedeutung mehr.«
»Geben Sie auf?«
Er blickte sie nacheinander an.
»Kennt ihr mich so schlecht?«
»Sie meinen, Sie werden ganz allein weitermachen, ohne alle Hilfsmittel, auf Schritt und Tritt bewacht?«
»Ich werde es versuchen.«
Sie lächelten jetzt beide gerührt und wußten nicht mehr, was sie tun und wie sie sich ausdrücken sollten.
»Nun, keine Sentimentalität. Bis demnächst.«
Er drückte ihnen hastig die Hand und ging zur Tür. Einige Augenblicke später stieg er die große Treppe der Kriminalpolizei hinab.
Als er die Toreinfahrt durchschritten hatte, grüßten ihn die beiden Polizisten, und er erwiderte ihren Gruß leicht ironisch. Es war komisch, die Welt plötzlich mit anderen Augen zu sehen, mit den Augen eines freien Mannes.
Er hatte nichts zu tun, keinen Grund, lieber rechts statt links einzubiegen.
Vielleicht war es einer der Angler am Ufer, der seine Angelrute im Stich lassen würde, um ihm nachzugehen. Oder der Chauffeur eines grauen Wagens, der hundert Meter weiter entfernt parkte.
Er beschloß, sich nach rechts zu wenden. Es war wie an den anderen Tagen, als er die ›Brasserie Dauphine‹ betrat. Der Wirt kam auf ihn zu und drückte ihm wie immer die Hand.
»Wie geht’s, Kommissar?«
»Ausgezeichnet!«
»Was nehmen Sie?«
»Das frage ich mich auch.«
Er wollte etwas anderes trinken, keinen gewöhnlichen Aperitif. Eine Erinnerung aus seinen Anfängen in Paris kam ihm in den Sinn. Man hatte damals ein neues Getränk herausgebracht, das ein oder zwei Jahre lang sein Lieblingsaperitif gewesen war.
»Gibt es noch Mandarinencuraçao?«
»Aber ja. Er wird zwar nicht mehr oft verlangt, und die jungen Leute wissen nicht, was das ist, aber wir haben immer eine Flasche im Regal… mit Zitronenschale?«
Er trank zwei
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