Maigret verteidigt sich
mußte seine Gedanken wieder ordnen, aber er weigerte sich, an die Affäre zu denken. Er fand es richtiger, sie erst einmal auf sich beruhen zu lassen.
Was konnte er unternehmen? Fast nichts. Aller Wahrscheinlichkeit nach stand jemand auf dem Boulevard Richard-Lenoir Wache, bereit, ihm zu folgen, wohin er auch gehen würde.
Er konnte auch nicht zum Boulevard de Courcelles gehen und erst recht nicht auf Nicole Prieur vor der Universität warten. Sie würde vielleicht um Hilfe rufen, und er wäre dann in einer lächerlichen Lage.
Würde man ihm überhaupt erlauben, noch einmal bei Dr. Mélan zu klingeln?
Das war unwahrscheinlich. Er war nicht einmal sicher, daß man ihn zu Manuel gehen lassen würde. Ihn anzurufen, war unmöglich, weil er selber angeordnet hatte, daß die Gespräche des ehemaligen Besitzers des ›Clou Doré‹ abgehört wurden.
»Ich habe Zucker hineingetan. Aber sei vorsichtig, der Kaffee ist kochend heiß.«
Sie blickte ihren Mann leicht beunruhigt an, und er lächelte ihr gutmütig zu.
»Mach dir keine Sorgen, Madame Maigret. Dein alter Mann wird mit der Sache schon fertig.«
Nur wenn er heiter war, nannte er sie Madame Maigret, und sie war überrascht, daß er es jetzt tat.
»Du wirkst sehr ruhig.«
»Ich bin es.«
»Wenn man dich sieht, würde man nicht glauben, daß du Probleme hast.«
»Weil sie sich zweifellos lösen werden.«
»Gehst du aus?«
»Ich werde ein wenig Spazierengehen.«
»Ist das wirklich nicht gefährlich?«
»Ich könnte von einem Autobus oder einem Wagen überfahren werden wie jeder auf der Straße.«
Dennoch spürte man, daß er innerlich erregt war. Er trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken.
»Hast du etwas zum Abendessen zu besorgen?«
»Ich habe alles telefonisch bestellt, und es ist bereits gebracht worden. Möchtest du wissen, was es gibt?«
»Ich lasse mich lieber überraschen.«
Er war noch nicht hundert Meter auf dem Gehsteig gegangen, als er sich umdrehte und seine Verfolger erspähte. Es waren zwei. Und sie taten sofort so, als seien sie in eine leidenschaftliche Diskussion verwickelt.
Maigret kannte sie nicht. Sie gehörten gewiß einer Abteilung an, die dem Innenministerium unmittelbar unterstand.
Er ging bis zur Bastille, überlegte, ob er sie abschütteln sollte, allein aus Spaß oder um ihnen einen Streich zu spielen, verzichtete dann aber schließlich mit einem Schulterzucken darauf.
Fast eine Stunde lang saß er wie ein Rentier auf einer Caféterrasse und las die Abendzeitung, die er vorher an einem Kiosk gekauft hatte, über den Boulevard Beaumarchais und durch die Rue Chemin-Vert ging er nach Hause zurück.
Da er noch Zeit hatte, duschte er.
Pardon hatte nicht angerufen. Das Ehepaar kam um acht Uhr, und man setzte sich sofort zu Tisch, denn es gab als Vorgericht ein Souffle, dem ein Hahn in Wein folgte.
»Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich den erreicht habe, der den Zahnarzt gut kennt. Ich werde nachher mit Ihnen darüber sprechen.«
»Erinnern Sie sich noch an unser Gespräch das letztemal bei Ihnen? Der gemeine Verbrecher… Das Böse um des Bösen willen… Ich habe Ihnen geantwortet, ich hätte keinen Grund, daran zu glauben. Aber heute abend frage ich mich, ob ich mich nicht geirrt habe.«
Aber er wollte beim Essen nicht mehr darüber sagen. Der Kaffee wurde im Salon serviert, die Männer nahmen ihren in das kleine Büro mit, das Maigret sich eingerichtet hatte.
»Wollt ihr Zwetschgenwasser oder einen Himbeergeist?«
Wie für sie beide antwortete Pardon:
»Weder das eine noch das andere.«
Das Fenster stand offen, und es begann draußen dunkel zu werden wie bei ihrem letzten Gespräch, nur mit dem Unterschied, daß der Himmel klar war. Kein Lüftchen regte sich, und kein Gewitter drohte.
»Erst bei meinem fünften oder sechsten Anruf hat man mich an einen Mann erinnert, den ich seinerzeit ziemlich gut gekannt habe und dessen Schwester ich vor allem gekannt habe. Ich glaube sogar, mit achtzehn war ich drauf und dran, sie zu heiraten…
Ich hatte beide vollkommen aus den Augen verloren. Und dabei wohnt Vivier ganz in meiner Nähe am Boulevard Voltaire. Ich konnte ihn zwischen zwei Krankenbesuchen kurz aufsuchen. Er ist Professor für Kieferheilkunde, und er kennt Mélan, den er den jungen Mélan nennt und der sein Schüler gewesen ist.«
Pardon blickte Maigret einen Augenblick an, ehe er fragte:
»Interessieren Sie sich sehr für ihn? Handelt es sich um einen Kriminalfall?«
Und der Kommissar antwortete
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