Maigret verteidigt sich
bedächtig:
»Entweder irre ich mich, und dann werde ich in einer Woche als Pensionär nach Meung-sur-Loire ziehen, oder aber ich habe recht und stehe dem seltsamsten Fall meiner Laufbahn gegenüber.«
»Ist Mélan die Schlüsselfigur dieses Falls?«
»Ja.«
»Das ist merkwürdig.«
»Warum?«
»Weil das, was Sie da eben gesagt haben, Viviers Ansicht sehr ähnelt. Sind Sie bei Mélan gewesen?«
»Heute morgen, unter dem Vorwand, ich hätte heftige Zahnschmerzen.«
»Ist er groß, rothaarig, blauäugig, sehr kurzsichtig, und hat er ungewöhnlich lange Arme?«
»Die Länge seiner Arme ist mir nicht aufgefallen.«
»Was hat er Ihnen gesagt?«
»Daß ich gesunde Zähne habe.«
»Er kommt aus sehr bescheidenen, sehr ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater war Tagelöhner in einem Dorf an der Somme. Die Familie gehörte zu den ärmsten dort. Obendrein betrank sich der Vater jeden Samstag. Es waren fünf Kinder. Francois Mélan hatte und hat gewiß noch eine Schwester, die zwei oder drei Jahre älter ist als er. Das alles hat Vivier erst lange, nachdem er sein Schüler geworden war, erfahren.
Zwei Jahre hat er fast nichts von ihm gewußt. Mélan ist kein Mensch, der sich ausspricht. Er hatte keine Freunde und auch keine Freundin.
Man wußte in der Fakultät nicht, daß er nachts arbeitete, um sich sein Studium zu verdienen. Vivier fragt sich noch heute, wo und unter welchen Umständen er sein Abitur gemacht hat. Ich will Ihnen einige seiner Bemerkungen wörtlich wiederholen:
›Ein begabter junger Mann, äußerst intelligent, ein verschlossener Charakter, jemand, der von Sorgen zerfressen ist…‹«
Maigret hörte zu, als prägte er sich jedes Wort ein.
»Vivier hat ihn schließlich zu seinem Assistenten gemacht, nicht nur, um ihm damit zu helfen, sondern weil er der beste seiner Studenten war.
›Im Anfang habe ich unter ihm gelitten‹, hat er mir gestanden. ›Es ist schwer, einen Assistenten zu haben, der außer in beruflichen Dingen kein Wort sagt und von dessen persönlichem Leben man nicht das geringste weiß. Eines Abends habe ich ihn zu mir eingeladen, und ich mußte ihm erst lange zureden, bis er bereit war, zu kommen. Nach dem Essen bin ich mit ihm in mein Arbeitszimmer gegangen und habe mich bemüht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Wir hatten Wein getrunken… Ich habe ihm Cognac eingegossen… Nur widerwillig hat er daran genippt. Aber allmählich ist er doch etwas aus sich herausgegangen, und ich habe dies und jenes aus seiner Vergangenheit erfahren…‹«
Pardon steckte sich eine Zigarette an und beobachtete Maigret von neuem.
»Entspricht das immer noch dem Bild, das Sie von dem Mann haben?«
»Ich brenne darauf, das Weitere zu hören…«
»Es ist einfach, aber dramatisch. In der Fakultät hatten Mélans Kommilitonen ihm den Spitznamen ›Unschuldslamm‹ gegeben. Es ging sogar das Gerücht um, er habe homosexuelle Neigungen.
Die Geschichte, die er Vivier anvertraut hat, erklärt sein Verhalten. Als die Deutschen in Frankreich einrückten, war er, wenn ich mich nicht irre, vierzehn Jahre alt. Seine Familie war zu arm, um wie so viele andere flüchten zu können…
Eines Abends standen Mélan und seine Schwester am Straßenrand, als zwei Motorradfahrer angebraust kamen. Es waren die ersten deutschen Soldaten, die sie sahen. Sie haben angehalten und sich nach irgendeinem Dorf erkundigt. Dann haben sie lachend miteinander gesprochen.
Schließlich haben sie dem jungen Mädchen ein Zeichen gemacht, sich auf die Böschung zu legen, und als sie zögerte, haben sie sie gewaltsam auf den Boden geworfen. Beide haben sie mißbraucht, ehe sie weiterfuhren, wobei sie sich über den Jungen mokierten, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte.
Ein solches Erlebnis kann bei einem sensiblen Kind sehr leicht ein sexuelles Trauma bewirkt haben.
›Sieht man Sie dieser Erinnerung wegen nie mit jungen Mädchen?‹ hat Vivier gefragt.
Und sein Assistent hat verlegen geantwortet:
›Ich weiß es nicht. Vielleicht werde ich eines Tages wie jeder heiraten. Ich frage mich aber, ob ich es wagen kann, ob ich fähig bin, eine Frau glücklich zu machen…‹«
Die beiden Männer schwiegen. Dann sagte Pardon:
»Glauben Sie, daß er ein Verbrechen begangen hat?«
Der Kommissar antwortete nicht sofort.
»Bis jetzt glaubte ich nicht an ein wirkliches Verbrechen. Aber jetzt bin ich dessen fast sicher. Hat Ihnen der Professor sonst noch etwas gesagt?«
»Nicht über Mélan. Über seine Assistentin, die eine
Weitere Kostenlose Bücher