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Maigrets Nacht an der Kreuzung

Maigrets Nacht an der Kreuzung

Titel: Maigrets Nacht an der Kreuzung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Aber unsere Eltern waren sehr streng, wie die meisten Protestanten. Ich selbst halte es nicht mit dem Glauben, aber Carl ist noch fromm. Nicht ganz so fromm wie sein Vater, der sein ganzes Vermögen verloren hat, weil ihm seine Skrupel den Kopf verwirrten … Carl und ich haben das Land verlassen …«
    »Vor drei Jahren?«
    »Ja. Sie müssen wissen, daß mein Bruder dazu ausersehen war, ein hoher Würdenträger bei Hofe zu werden … Und plötzlich ist er gezwungen, seinen Lebensunterhalt mit diesen schrecklichen Modestoffen zu verdienen. In den zweit- oder sogar drittklassigen Hotels in Paris, in denen wir absteigen mußten, war er entsetzlich unglücklich. Er hat denselben Hauslehrer wie der Kronprinz g e habt … Und jetzt hat er sich hier vergraben …«
    »Und Sie gleich mit.«
    »Ja. Aber ich bin daran gewöhnt. Auch im Schloß meiner Eltern war ich eine Gefangene. Alle Mädchen, die meine Freundinnen hätten werden können, wurden von mir ferngehalten – angeblich wegen ihrer niedrigen Herkunft.«
    Es war merkwürdig, mit welcher Plötzlichkeit sich ihr ganzes Gebaren nun änderte.
    »Glauben Sie«, fragte sie, »daß Carl wirklich, wie soll ich sagen, nicht mehr normal ist?«
    Und sie beugte sich vor, gespannt auf die Meinung des Kommissars.
    »Sie befürchten, daß …?« wunderte sich Maigret.
    »Das habe ich nicht gesagt. Gar nichts habe ich gesagt! Verzeihen Sie mir. Sie bringen mich zum Schwatzen. Ich weiß nicht, warum ich solches Vertrauen zu I h nen habe. Nun …«
    »Benimmt er sich manchmal seltsam?«
    Lässig zuckte sie die Schultern, schlug die Beine übereinander, nahm sie wieder auseinander, erhob sich, und einen Augenblick lang blitzte ihre helle Haut durch den Stoff ihres Morgenmantels.
    »Was soll ich Ihnen dazu noch sagen? Ich weiß nicht mehr … Seit dieser Autogeschichte … Warum hätte er einen Menschen töten sollen, den er gar nicht kennt?«
    »Sind Sie sicher, Isaac Goldberg nie gesehen zu haben?«
    »Ja. Soweit mir scheint …«
    »Sie sind nie zusammen in Antwerpen gewesen?«
    »Wir haben einmal dort übernachtet, als wir vor drei Jahren aus Kopenhagen kamen. Aber nein! Mein Bruder ist zu so etwas nicht fähig! Wenn er ein bißchen schru l lig geworden ist, dann kommt das eher von seinem U n fall als von unserem Ruin, dessen bin ich mir sicher. Er hat gut ausgesehen. Er sieht noch gut aus, wenn er sein Monokel trägt. Aber sonst … Können Sie sich ihn vorstellen, wie er ohne dieses schwarze Stückchen Glas eine Frau umarmt? Dieses starre Auge in der rötlichen A u genhöhle!«
    Sie schauderte.
    »Das ist bestimmt der Hauptgrund, weshalb er sich versteckt.«
    »Aber er versteckt auch Sie!«
    »Was macht das schon!«
    »Sie unterwerfen sich ihm.«
    »Das ist die Aufgabe einer Frau, vor allem einer Schwester. In Frankreich ist es ein bißchen anders. Aber bei uns oder in England zählt in einer Familie nur der älteste Sohn, der Stammhalter.«
    Sie erregte sich, rauchte hastiger und sog den Rauch tiefer ein. Sie ging auf und ab, während sich die Lich t strahlen auf ihrem Morgenmantel verloren.
    »Nein! Carl kann nicht töten. Das wäre ein Irrtum. Haben Sie ihn nicht freigelassen, weil Sie das eingesehen haben? Es sei denn …«
    »Es sei denn?«
    »Sie werden das doch nicht zugeben! Ich weiß wohl, daß die Polizei einen Verdächtigen manchmal mangels ausreichender Beweise freiläßt, um ihn dann um so sicherer überführen zu können! Das wäre widerwärtig!«
    Sie drückte die Zigarette in der Porzellanschale aus.
    »Wenn wir nur nicht auf diese unselige Kreuzung gestoßen wären! Der arme Carl suchte die Einsamkeit. Aber hier sind wir weniger unter uns, Kommissar, als im belebtesten Pariser Stadtteil! Gegenüber diese unmögl i chen und lächerlichen Kleinbürger, die uns belauern. Vor allem sie mit ihrer weißen Haube, die sie vormittags trägt, und ihrem schiefen Haarknoten am Nachmittag. Dann ein Stück weiter die Tankstelle … Drei Gruppen, drei Lager, würde ich sagen, alle gleich weit voneinander entfernt.«
    »Haben Sie etwas mit den Michonnets zu tun?«
    »Nein. Der Mann war einmal wegen einer Versicherung hier. Carl hat ihn hinauskomplimentiert.«
    »Und der Werkstattbesitzer?«
    »Der hat noch nie einen Fuß in unser Haus gesetzt.«
    »War es Ihr Bruder, der am Sonntagmorgen fliehen wollte?«
    Kurze Zeit schwieg sie mit gesenktem Kopf, und ihre Wangen röteten sich leicht.
    »Nein«, seufzte sie schließlich mit kaum vernehmbarer Stimme.
    »Sie wollten es?«
    »Ja,

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