Maigrets Nacht an der Kreuzung
sich das vorstellen? Da bewohnen wir ein so großes Haus mit einem Park von ich weiß nicht wieviel Hektar und können uns weder Telefon leisten noch Strom, noch eine Putzfrau für die gröbsten Arbeiten! Das ist typisch Carl! Wie sein Vater!«
Und plötzlich verfiel sie in ein nervöses Lachen. Es war eine unangenehme Situation, denn es gelang ihr nicht, sich zu beruhigen, und während sich ihr Körper noch unter dem Gelächter schüttelte, wurde ihr Blick zusehends besorgter.
»Was ist los? Was haben Sie Lustiges gesehen?«
»Nichts. Seien Sie mir nicht böse. Ich denke an unsere Kindheit, an Carls Hauslehrer, an unser Schloß dort mit all den Dienstboten, die Empfänge, die Vierspänner … Und nun das hier.«
Sie stieß die Milchbüchse um, preßte ihre Stirn gegen die Scheibe der Glastür und starrte hinaus auf die in der Sonne glühende Terrasse.
»Ich werde dafür sorgen, daß hier heute abend eine Wache aufgestellt wird.«
»Ja, das ist gut! … Nein, ich will keine Wache! Ich möchte, daß Sie selbst kommen, Kommissar! Sonst we r de ich mich fürchten.«
Lachte sie? Weinte sie? Sie atmete schwer. Ihr Körper zitterte von Kopf bis Fuß.
Man mochte glauben, sie mache sich über jemand lustig. Aber genausogut konnte sie auch kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehen.
»Lassen Sie mich nicht allein.«
»Ich muß meiner Arbeit nachgehen.«
»Aber da Carl doch geflohen ist!«
»Halten Sie ihn für schuldig?«
»Ich weiß nicht! Ich weiß nichts mehr! Wenn er geflohen ist …«
»Möchten Sie, daß ich Sie wieder in Ihr Zimmer einschließe?«
»Nein! Ich will so bald wie möglich, morgen früh, weg aus diesem Haus, weg von dieser Kreuzung. Ich möchte nach Paris, wo die Straßen voller Menschen sind, wo sich das Leben regt. Das Land macht mir angst … Ich weiß nicht …«
Und plötzlich:
»Werden sie Carl in Belgien festnehmen?«
»Es wird ein Auslieferungsantrag gegen ihn gestellt werden.«
»Das ist unglaublich! Wenn ich denke, daß noch vor drei Tagen …«
Sie nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und wühlte in ihrem blonden Haar.
Maigret stand auf der Terrasse.
»Bis später, Mademoiselle.«
Als er ging, spürte er Erleichterung, und dennoch verließ er sie nur ungern. Lucas ging auf der Straße auf und ab.
»Was Neues?«
»Nichts. Der Versicherungsagent hat mich gefragt, ob er bald einen Wagen bekommen wird.«
Monsieur Michonnet hatte es vorgezogen, sich an Lucas und nicht an Maigret zu wenden. Er stand in seinem Gärtchen und beobachtete verstohlen die beiden Mä n ner.
»Er hat also nichts zu tun?«
»Er behauptet, ohne Auto könne er seine Kunden auf dem Lande nicht besuchen. Er will Schadenersatz von uns fordern.«
An der Tankstelle standen ein vollbesetzter Personenwagen und ein Lieferauto.
»Einer, der sich kein Bein ausreißt«, stellte der Inspe k tor fest, »ist der Werkstattbesitzer. Der verdient ansche i nend mehr als genug. Da geht’s Tag und Nacht rund.«
»Hast du etwas Tabak?«
Diese zu frühe Hitze, die sich über das Land breitete, war unerwartet und ermüdend, und Maigret murmelte, während er sich über die Stirn strich:
»Ich werde eine Stunde schlafen. Heute abend sehen wir weiter.«
Als er an der Tankstelle vorüberkam, rief ihm Monsieur Oscar zu:
»Einen kleinen Rachenputzer, Kommissar? Nur einen kurzen, für den Heimweg!«
»Später!«
Laute Stimmen in dem Haus aus Mühlkalkstein ließen vermuten, daß Monsieur Michonnet sich mit seiner Frau stritt.
6
Die Nacht der Abwesenden
E
s war fünf Uhr nachmittags, als Maigret von Lucas geweckt wurde, der ihm ein Telegramm von der belgischen Polizei brachte.
Isaac Goldberg war seit mehreren Monaten unter Beobachtung, weil seine Lebensweise in keinem Verhältnis zu seinem Einkommen stand. Wurde verdächtigt, vorwiegend mit g e stohlenem Schmuck zu handeln. Keine Beweise. Reise nach Frankreich paßt zeitlich zu dem vor vierzehn Tagen in London begangenen Diebstahl von Schmuck im Wert von zwei Millionen. Aus anonymem Brief geht hervor, daß sich die Schmuckstücke in Antwerpen befanden. Dort wurden zwei international einschlägige Diebe beim Ausgeben großer Summen beobachtet. Vermutlich hat Goldberg Schmuck aufgekauft und ihn in Frankreich absetzen wollen. Erbitten Sie Beschreibung der Juwelen von Scotland Yard.
Maigret, der noch recht verschlafen war, stopfte das P a pier in seine Tasche und fragte:
»Sonst nichts?«
»Nein. Ich habe die ganze Zeit die Kreuzung überwacht. Der
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