Maigrets Nacht an der Kreuzung
benutzte Maigret den Dietrich. Die junge Frau war angezogen. Sie trug dasselbe figurbetonende schwarze Kleid wie am Tag zuvor.
»Haben Sie etwa meinen Bruder daran gehindert, nach Hause zu kommen?«
»Nein. Ich habe ihn nicht wiedergesehen.«
»Dann hatten die bei Dumas & Fils sicherlich sein Honorar noch nicht vorbereitet. Manchmal kommt es vor, daß er nachmittags noch einmal hinfahren muß.«
»Ihr Bruder hat versucht, die belgische Grenze zu übe r queren. Ich muß annehmen, daß es ihm geglückt ist.«
Verblüfft und ein wenig ungläubig starrte sie ihn an.
»Carl?«
»Ja.«
»Sie wollen mich auf die Probe stellen, nicht wahr?«
»Können Sie fahren?«
»Was fahren?«
»Einen Wagen.«
»Nein. Mein Bruder hat es mir nie beibringen wollen.«
Maigret hatte die Pfeife nicht aus dem Mund genommen und den Hut aufbehalten.
»Haben Sie dieses Zimmer verlassen?«
Sie lachte. Es war ein offenes, helles Lachen. Und mehr denn je hatte sie das, was die amerikanischen Fil m leute Sexappeal nennen.
Denn eine Frau kann schön sein, ohne verführerisch zu wirken. Andere dagegen haben vielleicht weniger ebenmäßige Züge und können dennoch Begierde oder eine sentimentale Sehnsucht wecken.
Else entfachte beides. Sie war Frau und Kind in einem. Sie strahlte Sinnlichkeit aus. Doch wer ihrem Blick bege g nete, war von der kindlichen Klarheit ihrer Augen übe r rascht.
»Ich verstehe nicht, was Sie sagen wollen.«
»Im Salon im Erdgeschoß hat jemand vor weniger als einer halben Stunde geraucht.«
»Wer?«
»Das will ich von Ihnen wissen.«
»Und woher, meinen Sie, soll ich das wissen?«
»Der Plattenspieler stand heute morgen noch unten.«
»Das ist nicht möglich! Wie soll ich … Hören Sie, Kommissar! Ich hoffe, Sie verdächtigen mich nicht! Sie sehen mich so komisch an. Wo ist Carl?«
»Ich wiederhole Ihnen, er hat die Grenze überquert.«
»Das ist nicht wahr! Das ist unmöglich! Warum hätte er das tun sollen? Ganz abgesehen davon, daß er mich nicht allein hier zurücklassen würde! Das ist verrückt! Was sollte aus mir werden, ganz allein?«
Es war verblüffend. Ohne jeden Übergang, ohne große Gesten und ohne Geschrei verwandelte sie sich plötzlich in ein bemitleidenswertes Geschöpf. Es waren ihre Augen, aus denen eine unbeschreibliche Verwi r rung sprach, die ihn unverständig und flehend anblic k ten.
»Sagen Sie mir die Wahrheit, Kommissar! Carl ist unschuldig, nicht wahr? Andernfalls hätte er den Verstand verloren! Und das will ich nicht glauben! Es macht mir angst. In seiner Familie …«
»Gibt es Geisteskranke?«
Sie wandte den Kopf ab.
»Ja. Sein Großvater. Er ist in einem Anfall von Wahnsinn gestorben. Eine seiner Tanten ist in der Irrenanstalt. Aber nicht er! Nein! Ich kenne ihn.«
»Haben Sie etwas zu Mittag gegessen?«
Sie zuckte zusammen, blickte um sich und erwiderte erstaunt:
»Nein.«
»Sind Sie nicht hungrig? Es ist drei Uhr.«
»Doch, ich glaube, ich habe Hunger.«
»Dann essen Sie etwas. Es besteht kein Grund dafür, daß Sie weiter eingeschlossen bleiben. Ihr Bruder wird nicht zurückkehren.«
»Das ist nicht wahr! Er wird zurückkommen! Es kann nicht sein, daß er mich allein läßt!«
»Kommen Sie!«
Maigret stand schon im Flur. Er rauchte immer noch, und seine Stirn lag in Falten. Er ließ das Mädchen nicht aus den Augen.
Sie streifte ihn, als sie an ihm vorbeiging, aber Maigret reagierte nicht darauf. Unten angekommen schien sie noch verwirrter.
»Carl hat mir immer das Essen serviert. Ich weiß nicht einmal, ob etwas da ist.«
Immerhin fand sie eine Büchse Kondensmilch und etwas Knäckebrot in der Küche.
»Ich kann nichts essen. Ich bin zu nervös. Lassen Sie mich. Oder nein, lassen Sie mich lieber nicht allein. Ich habe dieses schreckliche Haus nie gemocht … Was ist das dort?«
Sie deutete durch die Glastür auf ein zusammengerolltes Häufchen, das auf einem der Parkwege lag. Es war nur eine Katze!
»Mir graut vor Tieren! Mir graut vor dem Lande! Es ist so voller Geräusche, die mich jedesmal aufschrecken. Nachts, jede Nacht, sitzt irgendwo eine Eule, die en t setzliche Schreie ausstößt.«
Auch die Türen schienen ihr Angst einzuflößen, denn sie blickte sie an, als wäre sie darauf gefaßt, überall Fei n de auftauchen zu sehen.
»Ich werde nicht allein hier schlafen. Ich will nicht!«
»Haben Sie Telefon?«
»Nein. Mein Bruder hat überlegt, ob wir uns einen Anschluß legen lassen sollten. Aber es ist zu teuer für uns. Können Sie
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