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Mainfall

Mainfall

Titel: Mainfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Woelm
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zum Anlass, unseren Kurs zu korrigieren. Die Jacht legte sich schräger, die Wellen zischten noch heftiger an Backbord vorbei und Marcel wies mich an, ich solle mich ganz nach Steuerbord setzen.
    »Lange kann es nicht mehr dauern«, meinte er und hielt die Nase in den Wind, als ob man eine Halbinsel riechen könnte. Wahrscheinlich hat er sie sogar gerochen, denn kurze Zeit später tauchte tatsächlich ein winziges Licht am nächtlichen Horizont auf.
    »Das muss sie sein«, sagte er zu mir. »Es ist gut, wenn wir schon am frühen Morgen ankommen. Ich hoffte, es bemerkt uns dann noch niemand. Ich werde mich mit der Jacht wieder aus dem Staub machen, sobald ich dich abgesetzt habe.«
    Ich bat ihn zwar, noch etwas zu bleiben, aber da war nicht mit ihm zu reden. Ich könne froh sein, dass er mich überhaupt zu dieser gottverdammten Halbinsel bringe, sagte er und er hoffte, dass wir dort keine Schwierigkeiten bekämen. Obwohl er sonst ein Haudegen war, schien er Angst vor diesem Inselgebiet zu haben.
    Das Licht leuchtete weit übers Meer. Deshalb dauerte es lange, bis wir die Halbinsel tatsächlich erreichten. Ein erster Hauch von Dämmerung stieg am Horizont auf und ließ die Konturen der Halbinsel vor dem graublauen Nachthimmel erscheinen. Ich kannte diese Konturen. Wie eine Schablone hatten sie sich seit meiner Kindheit in meine Seele eingebrannt und ich wusste, dass dies meine Insel war. Hügelig war sie in ihrem Zentrum und fiel nach den Seiten flach ab. In den Bergen hingen Wolken, obwohl der Himmel über dem Meer völlig klar war.
    »Die Geisternebel liegen über der Halbinsel. Kein gutes Zeichen«, murmelte Marcel.
    Abergläubisch scheint er auch noch zu sein, dachte ich.
    »Ich werde dich beim Hafen absetzen. Pack am besten deine Sachen in meinen alten Rucksack. Ich schenke ihn dir. Er ist in den 500 Euro inbegriffen, die ich von dir erhalte«, sagte Marcel.
    Ich fand den Rucksack gleich neben der Kajütentür, packte meine Plastiktüte mit den Kleidern und dem Handy hinein, zusätzlich drei Flaschen Mineralwasser, etwas Zwieback und ein Messer, das mir Marcel ebenfalls geschenkt hatte. Dann übereichte ich ihm die 500 Euro.
    »Natürlich gehören sie dir nur, wenn du mich auf der Halbinsel absetzt«, lachte ich, wobei ich mich lockerer gab, als ich tatsächlich war, denn es war schon ein komisches Gefühl, auf die eigene Insel zu kommen und nicht zu wissen, was einen dort erwartete.
    Inzwischen lag die Halbinsel direkt vor uns. Die Weinberge stiegen bestimmt 200 Meter in die Höhe und darüber waren Hügel zu sehen, die sich in der Dämmerung graublau vor dem Morgenhimmel abhoben. Auf dem höchsten Hügel thronte ein Schloss mit mehreren Türmen, von denen ich schon als Junge übers Meer geschaut hatte. Am Fuße der Berge dehnten sich Maisfelder aus, die fast bis ans Meer reichten, wo der felsige Strand von stacheligem Gestrüpp gesäumt wurde. Das war meine Heimat, von der die Wahrsagerin in Venedig gesprochen hatte. Insel im Meer, viel Sonne und Wein, hatte sie gesagt. Jetzt lag sie vor mir, diese Insel. Allerdings schlichen sich auch dunkle Gedanken an mich heran. ›Schloss auf Insel, böser Mann, Sarg auf Friedhof‹, hatte die alte Wahrsagerin gekrächzt. Was sie damit wohl gemeint hatte?
    Der Friedhof lag am Rande des kleinen Ortes, der hinter dem Hafen den Hang emporstieg. In den wenigen Häusern, die sich um die Kirche scharten, blickten im Morgengrauen lediglich dunkle Fenster übers Meer. Nur beim Bäcker brannte Licht. Alle anderen schliefen. Der Hafen lag nur noch wenige Hundert Meter vor uns. Plötzlich schlugen Hunde an. Im Haus des Hafenwärters flackerte Licht auf und ein Vorhang bewegte sich hinter den Scheiben.
    »Scheiße«, fluchte Marcel und drehte ab, »so habe ich mir das vorgestellt.«
    »Aber wir hätten doch anlegen können«, sagte ich.
    »Kennst du den Wärter?«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Na also«, brummte er und schoss seitlich am Hafen vorbei.
    »Zieh deine Badehose an und pack alles andere in den Rucksack«, wies er mich an. »Und nimm mein Handtuch mit. Ein letztes Geschenk von mir.«
    Ich merkte, dass Diskussionen mit ihm jetzt keinen Zweck hatten, und machte alles genau, wie er sagte. Etwa 1.000 Meter weiter die Küste entlang, im Sichtschutz von Felsblöcken und Gestrüpp, brachte mich Marcel an Land. Er stellte die Jacht in den Wind, half mir über die Badeleiter ins brusttiefe Wasser, sagte, ich solle den Rucksack über dem Kopf halten, und verabschiedete sich von

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