Mainfall
Bild! ›Sarg auf Friedhof‹, hatte die Wahrsagerin in Venedig gesagt. Da war er nun, der Sarg auf diesem Friedhof, in dem ich angeblich lag. Ich verstand das alles nicht, aber immerhin wusste ich jetzt, dass ich der Graf dieser Halbinsel war oder eines Tages werden würde, falls mein Vater noch lebte. Wie ein Dieb schlich ich mich vom Friedhof. Hier galt ich als tot und da ich es nicht wirklich war, hatte irgendjemand diese Ganoven beauftragt, mich ins Jenseits zu befördern. Ich stieg vom Friedhof hinauf in die Weinberge und versteckte mich in einer der gemauerten Schutzhütten, die auf halber Höhe der Hänge zwischen den Reben angelegt waren. Schon als Junge hatte ich mich hier versteckt, wenn ich etwas ausgefressen hatte. Der Blick ging über das Dorf und die Halbinsel und weit übers Meer, das sich inzwischen wieder etwas beruhigt hatte. Ich hielt Ausschau nach der Jacht von Marcel, allerdings schien er bereits über alle Berge zu sein, jedenfalls entdeckte ich die Jacht nirgendwo, so weit ich auch schaute.
Ich aß etwas Zwieback und trank Mineralwasser. Dann blieb ich einfach auf der steinernen Bank der Hütte sitzen und beobachtete meine Heimat. Alles blieb ruhig. Kein Hotel gab es hier und keine Touristen, was mir seltsam vorkam. Einen Bäcker, einen Krämerladen, eine Kneipe, Rathaus und Dorfschule natürlich – das war alles. Und über allem thronte das Schloss. Ich fragte mich, wie ich meinem Schicksal auf die Spur käme, ohne mich zu sehr in Gefahr zu begeben. Wer würde zu mir halten? Auf wen konnte ich mich verlassen?
Mit solchen Gedanken stieg ich weiter zwischen den Weinbergen hoch in Richtung Schloss. Ich kannte die Wege, kannte bald jeden Stein hier, denn als Junge war ich tagein und tagaus auf der Halbinsel unterwegs gewesen, sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die mich lieber mehr bei den Schulbüchern gesehen hätte. Kurz vor dem Schloss bog ich in den Wald ab, der eher eine Ansammlung von dornigem Gestrüpp war, durch das der Weg zu einem Felsen führte, von dem aus man von oben auf das Schloss sah. Besser erst einmal vorsichtig sondieren, dachte ich.
Das war auch gut so, denn was ich zu sehen bekam, trieb mir fast die Tränen in die Augen. Der Schlosspark war von hohen Elektrozäunen umgeben. Wie eine Festung wirkte das Schloss auf mich. Am Eingang zum Park standen zwei Wächter in blauen Uniformen und am Aufgang zur breiten Schlosstreppe rechts und links jeweils ein Baldachin, unter dem ein Wächter postierte. Von meinem Felsen konnte ich alles überblicken. Dornengestrüpp schützte mich, so wie es mich als Jungen geschützt hatte, wenn ich hier mit meinen Freunden Indianer spielte, wenn mein Bogen den Pfeil in den Schlossgarten sandte, direkt vor die Füße von Jacques, dem Gärtner. Einmal hatte ich ihn ins Bein getroffen, direkt unter die Kniescheibe, weshalb er wochenlang humpelte und mich dadurch an meine Schandtat erinnerte. Es war, wie wenn diese Insel mir meine Erinnerung zurückgab, Schritt für Schritt, in kleinen Häppchen. Ich spürte den Felsen unter mir, roch den lockeren Boden, der sich in den Felsspalten gesammelt hatte und der dieses dornenbesetzte Gestrüpp hervorbrachte, von dem die Halbinsel gekrönt wurde. Ich fühlte die Wärme der Steine, die mich schon als Kind gewärmt hatten, wenn ich hier in der Abendsonne lag und auf den Ruf des Vaters wartete. Über die ganze Halbinsel schallte es, wenn er die Hände an den Mund legte und mich rief, und der ganze Ort wusste dann, dass beim Grafen der Île du vin zu Abend gegessen wurde.
So tief hatte sich das alles in meine Seele eingebrannt, dass es auch der Main hatte nicht löschen können, der mir sonst alles genommen hatte. Ich sah, wie die Sonne über dem Meer höher stieg, und ich wusste, dass dies meine Sonne war, dass sie hier nur für mich schien, auf diesem Felsen auf meiner Halbinsel. Ich begriff jetzt, warum die Alten, wenn das Ende nahte, immer zum Ort ihrer Jugend zurückkehrten. Es war dieses Gefühl von Geborgenheit, das sie suchten, dieses Gefühl der Verbundenheit mit dem Stück Erde, auf dem man aufgewachsen ist. Für mich war es dieser Felsen, der meine Kindheit begleitete, es waren die Treppen des Schlosses, auf denen ich als Kind gespielt hatte, es waren die schuppigen Stämme der Palmen im Schlosshof, die meine kleinen Kinderhände umfangen hatten. Eine Eidechse zeigte sich unterhalb von mir. Sie huschte zu einem sonnigen Vorsprung des Felsens, den selbst ich nicht zu betreten wagte.
Die Eidechse
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