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Mainfall

Mainfall

Titel: Mainfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Woelm
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mir.
    »Viel Glück, alter Freund. Und halt die Ohren steif!« Dabei fuhr er mir mit der Hand durchs Haar, als ich schon im Wasser stand. So viel Zärtlichkeit hätte ich dem alten Seebären gar nicht zugetraut, aber auch bei ihm schien zu gelten: Raue Schale, weicher Kern. Er wartete mit dem Ablegen, bis ich das Ufer erreichte. Dann sah ich, wie sich die Segel blähten und die Jacht Fahrt aufnahm. Marcel winkte mir zu, aber nur einmal, anschließend drehte er sich nicht mehr um.
    Für mich war es ein seltsames Gefühl, mutterseelenallein mit diesem alten Rucksack auf der Halbinsel zu stehen – meiner Halbinsel. Ich trocknete mich ab, denn der Morgen war noch frisch, zog meine Sandalen an, nahm den Rucksack auf die Schulter und ging den Uferweg in Richtung Hafen. Ob ich einfach den Bäcker besuchen sollte?, überlegte ich. Wenn er lange hier arbeitete, könnte er mich kennen und ich würde mich eventuell an ihn erinnern. Aber – wenn nicht? Rotfux kam mir in den Sinn. Er hätte sicher zur Vorsicht geraten, hätte mich an die Erpresserbande erinnert, die schon dreimal versucht hatte, mich ins Jenseits zu befördern. Also entschloss ich mich, lieber erst einmal zum Friedhof zu schleichen, um dort zu sehen, ob es neue Gräber gab. Dann wüsste ich wenigstens, wer gestorben war und wer noch lebte. Die Menschen waren hier wie eine Familie, ich müsste sie alle kennen und ich würde mich sicher erinnern, wenn ich die Grabkreuze sah.
    Das Morgenrot färbte inzwischen den Himmel und das Meer. Meine Uhr zeigte halb fünf. Auf der Île du vin gab es für niemanden, außer dem Bäcker, einen Grund, so früh aufzustehen. Dementsprechend war es kein Problem für mich, leise an den dunklen Häusern vorbeizuschleichen und unerkannt zur Kirche zu gelangen. Vorsichtig drückte ich die schwere hölzerne Kirchentür nach innen.
    Langsam ging ich durch die Bankreihen zum Altar. Ich erinnerte mich, dass ich diesen Weg bereits bei meiner Firmung gegangen war und bei verschiedenen Familienfesten. Ich erkannte auch meinen Sitzplatz, denn unsere Familie hatte spezielle Plätze im Chor der Kirche, hölzerne Kirchenstühle, kunstvoll geschnitzt und unter dem Familienwappen mit dem Namen versehen. Plötzlich bekam ich ganz feuchte Hände.
    Gleich würde ich meinen richtigen Namen erfahren, dachte ich. In wenigen Augenblicken würde ich ihn lesen. Auf meinem Kirchenstuhl müsste er stehen, so wie er in meinen Ausweis gehörte, um diesen lächerlichen Johann König wieder zu ersetzen. Ich rannte nahezu zu meinem Stuhl, beugte mich über die Lehne, versuchte zu lesen, aber ich konnte nichts erkennen. Man hatte meinen Namen entfernt, die hölzernen Buchstaben waren beseitigt und neue noch nicht eingefügt. Ich rang nach Luft, ließ meinen Rucksack auf den Boden sinken und setzte mich erst einmal auf meinen Platz. Ja, es war mein Platz, kein Zweifel! Hier hatte ich oft den Predigten gelauscht, hatte von hier aus die Mutter Gottes am Altar gesehen, hatte für meinen Großvater gebetet, als er krank war, und für meine Mutter, bevor sie starb.
    Ja, daran erinnerte ich mich jetzt wieder, meine Mutter war gestorben, sie musste auf diesem Friedhof liegen und gleich würde ich sie besuchen. Ich huschte mit meinem Rucksack durch die Seitentür der Kirche nach draußen auf den Friedhof, sah die Grabkreuze im Morgenlicht und las die Namen der Verstorbenen, von denen ich viele kannte. Direkt neben dem Kirchturm lag unser Familiengrab, leider extra eingezäunt und verschlossen.
    ›Conte de l’Île du vin‹, las ich auf dem Grabstein meines Großvaters. Es stimmte also, was die Wahrsagerin mir gesagt hatte: Wir waren die Grafen dieser Halbinsel. Auch das Grab meiner Mutter erkannte ich. Ihr Bild war auf der Granitplatte zu sehen, als kleine Erinnerung. Darunter waren ihr Name und ihre Herkunft eingraviert. ›Gräfin von und zu Traunstein‹ war da zu lesen. Mein Gott, ja, sie war eine Deutsche gewesen. Sie hatte mir meine Muttersprache beigebracht – auch wenn ich später in der Schule nur noch Französisch gesprochen hatte. Ihr hatte ich es zu verdanken, dass ich zweisprachig aufgewachsen war. Ich faltete die Hände und sprach ein Gebet für sie.
    Direkt neben ihr sah ich einen Grabstein, der neu für mich war. Er lag im Schatten der Mauereinfassung, welche das Familiengrab umgab. Trotzdem meinte ich, das Bild zu erkennen, welches sich darauf befand. Ich schaute zweimal, dreimal, rieb mir die Augen, aber das Bild veränderte sich nicht: Es war mein

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