Mainfall
Last schwerer, die auf meiner Seele lag. Nachts träumte ich von Ulrich, der mir Isabell ans Herz legte. Er erinnerte mich an das Versprechen, welches ich ihm auf dem Sterbebett gegeben hatte, und rief mir immer wieder dieses ›Du musst dich um Isabell kümmern‹ entgegen. Nie hatte ich gedacht, dass die Freiheit so grausam sein konnte. Jetzt wusste ich, wer ich war, der Kommissar hatte mir versichert, dass ich bald meinen neuen Pass erhalten würde, und trotzdem fühlte ich mich schlechter als jemals zuvor. Isabell merkte das natürlich.
»Was hast du denn?«, fragte sie mich immer wieder.
Aber ich konnte ihr nicht die Wahrheit sagen, war zu feige dazu, fürchtete mich vor ihrer Enttäuschung, hatte nicht den Mut, ihr in die traurigen Augen zu sehen. Also wartete ich, bis ihre Zeit abgelaufen war und ihr Urlaub zu Ende ging. Am Tag der Abreise versprach ich ihr, ebenfalls bald nach Aschaffenburg zu kommen und dort im Schloss wieder meine Audienz zu halten. In Wirklichkeit war ich mit meinen Gedanken jedoch schon in Straßburg, stieg die Treppe zu Melanies Wohnung empor, diese wunderbare Holztreppe, die für mich der Weg ins Paradies war.
Kaum hatte Isabell die Insel verlassen, packte ich meine Sachen, um nach Straßburg zu reisen. Diesmal war es kein schäbiger Rucksack, auch keine abgestoßene Reisetasche, sondern ein eleganter Lederkoffer, in den ich meine Habseligkeiten verstaute.
»Ich habe dringend etwas in Straßburg zu erledigen«, sagte ich zu meinem Vater, der mich zwar seltsam ansah, sich damit allerdings zufriedengab. Noch am Nachmittag desselben Tages landete ich mit Oskar auf dem Flughafen in Straßburg Entheim.
Ich hatte Oskar mitgenommen, denn nach der langen Trennung, die er gerade erst hinter sich gebracht hatte, wollte ich ihn nicht schon wieder allein lassen. Da er nur vier Kilogramm wog, durfte er sogar in der Passagierkabine mit mir fliegen und saß die ganze Zeit in einer Tragetasche vor meinen Füßen. Vom Flughafen ließ ich mich mit einem Taxi in die Innenstadt bringen.
»Zum Münster, bitte«, sagte ich.
Ich ging am Münster vorbei zum Maison Kammerzell, diesem altehrwürdigen Haus, das sich des schönsten Fachwerks der ganzen Stadt rühmte. Ich hatte Glück, denn ich bekam das letzte freie Zimmer. Schräg war es und lag unter dem Dach, aber es war genau richtig für diese Nacht. Kräftige rissige Holzbalken beschützten mich. Ich hatte zuvor im Restaurant gegessen, einen Riesling getrunken und noch einen zweiten, bevor der dritte mir Gute Nacht wünschte und ich über die steinerne Wendeltreppe nach oben wankte und mich todmüde ins Bett legte.
Am nächsten Morgen besuchte ich Melanies Haus. Die Eingangstür war nur angelehnt. Ich schob sie nach innen, nahm Oskar auf den Arm und stieg die hölzernen Treppen langsam nach oben.
Ich klingelte an Melanies Wohnung, aber nichts rührte sich. Dafür ging im Stockwerk darunter eine Wohnungstür auf und eine alte Frau kam ins Treppenhaus hinaus.
»Wen suchen Sie denn?«, fragte sie mich. »Es ist außer mir niemand im Haus.«
»Ich suche Melanie«, antwortete ich.
»Die war schon lange nicht mehr hier«, sagte die alte Frau. »Sie hatte einen Unfall. Zuerst hieß es, sie sei tot, dann war sie einmal mit Krücken und einer Halskrause hier. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«
Die Dame wusste gar nicht, was sie mir eben für eine Botschaft überbracht hatte. Melanie ging es gut! Sie war hier gewesen, zwar mit Krücken und Halskrause, aber sie lebte. Ich musste mich am Geländer festhalten. Das Treppenhaus tanzte vor meinen Augen. Ich setzte Oskar auf den Boden. Sofort begann er, an Melanies Tür zu kratzen, und wollte in die Wohnung hinein.
»Sie kennen wohl Melanie?«, fragte die alte Frau, als sie das sah.
»Ja, ich kenne sie gut. Wollte sie besuchen. Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«
Die alte Frau trat einen Schritt nach vorn, weiter in den Flur, sodass ihr von Falten zerfurchtes Gesicht im Licht der schwachen Treppenbeleuchtung gut zu sehen war. Sie musterte mich, als ob sie von der Kriminalpolizei beauftragt worden wäre, jeden Besucher genau zu beobachten. Eine dicke, aufgeplusterte Katze erschien hinter ihr und strich ihr um die Beine. Oskar knurrte, aber er blieb ansonsten ruhig.
»Vielleicht ist sie bei ihren Eltern in Obernai oder sie ist in der Klinik«, sagte sie. »Ich weiß es nicht. Sie hat nie viel mit uns gesprochen.«
Darin lag etwas Vorwurfsvolles und die alte Frau schien sich jetzt auch nicht
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