Mainfall
dass ich nun auch als Humpelfuß eine gute Gelegenheit hatte, etwas über Melanie herauszufinden.
Der Professor zog die Stirn in Falten. »Mhmm, vor einiger Zeit hatten wir einen solchen Fall. Eine junge Frau, die mit sehr schweren Verletzungen eingeliefert wurde: keine Reflexe mehr, kaum Lebenszeichen. Wie durch ein Wunder ist es uns gelungen, sie doch noch zurückzuholen. Aber das ist bestimmt mehr als zwei Monate her.«
Ich überlegte. Wie ein Film lief die Zeit seit Melanies Unfall vor meinem inneren Auge ab: die Reise nach Venedig, die Prophezeiung der alten Wahrsagerin, mein Urlaubsstart mit Isabell nach Frankreich, der Badeunfall in Obernai, meine Flucht nach Südfrankreich und schließlich der Kampf um die Insel – acht oder neun Wochen hatte das insgesamt gedauert.
»Ja, das könnte stimmen«, sagte ich. »Mindestens acht Wochen ist es her.«
Professor Ducrot erklärte mir, dass er eigentlich keine Informationen über Patienten weitergeben dürfe. Trotzdem war er bereit, in seiner Patientendatei nachzusehen. Er nahm mich mit in sein Büro.
»Wie ist denn der Nachname?«, fragte er mich.
Es war mir peinlich, aber mir fiel ihr Nachname nicht mehr ein.
»Dann bitte das Geburtsdatum«, sagte der Professor und sah mich fragend an, bereit, das Datum in seinen Computer einzugeben.
»Geburtsdatum?«, stammelte ich. »Da muss ich ebenfalls passen, Herr Professor.«
Obwohl mir niemand je so nah gewesen war wie Melanie, merkte ich plötzlich, dass ich die einfachsten Dinge über sie nicht wusste.
»Dann geben wir mal den Vornamen ein«, sagte Ducrot, klang allerdings sehr skeptisch. Nachdem er den Namen eingetippt hatte, dauerte es einen Moment, bis er wieder von seinem Computer aufsah.
»Na bitte! Was ich befürchtet hatte. Mehr als 30 Melanies in den letzten drei Monaten.«
Ich fragte zwar noch zaghaft, ob man diese 30 Patientinnen nicht doch durchsehen oder es über die Adresse versuchen könne, um die Richtige zu entdecken, aber darauf ließ sich Ducrot nicht ein. Er blickte unruhig auf seine Uhr, gab mir zu verstehen, dass er ohnehin schon längst wieder im OP sein müsse, und wies nochmals darauf hin, dass er mir eigentlich sowieso nichts sagen dürfe.
»Tut mir leid, Herr Graf. Da ist nichts zu machen. Sie müssen sie schon selbst finden.«
Nach der Rückkehr aus der Klinik verbrachte ich den Rest des Tages am Münsterplatz. Es war Samstag und man hörte mehr Deutsch als Französisch. Ich saß mit meinen Krücken vor dem Maison Kammerzell, genoss die vorzügliche Küche und das angenehme Spätsommerwetter. Der Wirt des Kammerzell hatte mir einen schönen Tisch reserviert und war sehr fürsorglich zu mir. Auch sprach er mich auffallend oft mit Herr Graf an, vor allem, wenn die anderen Gäste es hören konnten. Ich bemerkte, dass man als Graf gewisse Vorteile genoss, jedenfalls in Restaurants und Kliniken. Ich war wieder wer, seit ich meinen französischen Pass bei mir trug, in dem ich als Graf der Île du vin ausgewiesen war. Wäre nicht die Sache mit meinem verstauchten Fußgelenk gewesen und hätte ich nicht eigentlich nach Melanie gesucht, es hätte der schönste Sommertag in Straßburg sein können. So aber machte ich mir Gedanken über Melanie, über Isabell und über meine Audienz, die im Aschaffenburger Schloss für den morgigen Sonntag angekündigt war. Konnte ich die Kinder enttäuschen? Durfte ich mit meinem verstauchten Fußgelenk einfach im Kammerzell bleiben, bis die Schmerzen weniger wurden? Nein, das darfst du nicht, sagte meine innere Stimme, die eigentlich immer recht behielt. Also bat ich den Wirt, mir aus dem Internet einen Zug nach Aschaffenburg herauszusuchen, sodass ich am Sonntag rechtzeitig zu meiner Audienz um 11 Uhr im Aschaffenburger Schloss sein würde.
»Aber gern doch, Herr Graf«, sagte er ziemlich laut und ich sah, wie einige ältere Damen an den Nachbartischen die Köpfe zusammensteckten und über mich tuschelten. Oskar interessierte das alles nicht. Er lag brav bei mir in der Sonne, bellte ab und zu, wenn größere Hunde über den Münsterplatz spazierten, und hatte sich ansonsten wohl damit abgefunden, dass mit seinem Herrchen im Augenblick keine größeren Runden zu drehen waren.
Am nächsten Morgen ließ es sich der Wirt nicht nehmen, mich höchstpersönlich zum Bahnhof zu bringen, obwohl mein Zug um 6.54 Uhr abfuhr. Er trug meinen Koffer und kam sogar mit auf den Bahnsteig, da ich mit Oskar, dem Koffer und den Krücken irgendwie überfordert
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