Mainfall
Gitter weit offen.
»Sie haben den Gefangenen gleich Handschellen angelegt und sie aufs Schiff gebracht«, berichtete Jacques, den ich dort traf.
»Und wo ist der Kommissar?«, fragte ich.
»Dem haben wir das zweite Gästezimmer gegeben. Er sagte, morgen solle noch das Grab geöffnet werden«, antwortete der Gärtner.
Er schien keine Müdigkeit zu kennen und hatte sich vorbildlich um alles gekümmert.
»Sehr gut, Jacques«, lobte ich ihn. »Dann können wir jetzt wohl auch ins Bett.«
Ich schlief auch die zweite Nacht in der Bibliothek, denn ich fühlte mich dort am wohlsten. Oskar kuschelte zwischen meinen Füßen und morgens lag er sogar an meiner Brust, wohl, weil er mir noch näher sein wollte. Einen Moment lang musste ich an den Main und dieses Boot denken, unter dessen Persenning wir ebenfalls Brust an Brust geschlafen hatten, nachdem mich Oskar gerettet hatte.
»Bist ein Braver«, sagte ich zu ihm und kraulte ihn hinter den Ohren.
Ich ließ meinen Blick über die Regalreihen mit den Büchern wandern. Das war meine Welt. Keiner hatte hier so viel in den Büchern gelesen wie ich. Für mich waren viele gekauft worden, solange Mutter noch lebte und meine Wünsche noch etwas galten. Ich stand auf und strich liebevoll über die Bücherrücken. Hemingway, Stevenson, Mark Twain, Jules Verne – hier waren sie alle versammelt, die mir selbst in meinen schlimmsten Tagen Zuflucht geboten hatten. Als ich sprachlos war, hatten sie zu mir geredet. Als mir gar nichts mehr einfallen wollte, hatten sie Gedanken für mich gehabt. Ich musste wieder an Melanie denken. Sie hatte geglaubt, ich sei ein Schriftsteller. Sie hatte mich wohl am besten von allen gekannt, außer meiner Mutter natürlich. Doch sie war nicht da und ich wusste nicht einmal, ob sie noch im Krankenhaus lag oder bereits ihren schweren Verletzungen erlegen war. Immer stärker wurde mein Wunsch, das herauszufinden.
Doch zunächst gab es Frühstück im Rittersaal, und zwar gemeinsam mit Isabell und dem Kommissar. Mein Vater saß am Kopfende der Tafel, wie es sich für den Grafen gehörte, der er ja offiziell immer noch war. Isabell saß unter dem Bild meiner Mutter und Kommissar Rotfux neben ihr. Die beiden unterhielten sich ausgesprochen lebhaft, als ob sie sich schon lange kannten, und so fiel es gar nicht auf, dass ich wenig sprach. Mein Vater musterte Isabell auffallend und ich sah, wie sein Blick mehrmals zu ihr, dann zum Bild meiner Mutter und wieder zu ihr ging. Isabell schien ihm zu gefallen und je freundlicher er zu ihr wurde, desto schlechter fühlte ich mich. Natürlich drehten sich die Gespräche nur um meine Vergangenheit, um die Rettung des Schlosses und schließlich auch um meine Zukunft.
»Sobald er verheiratet ist, ziehe ich mich als Graf zurück«, sagte mein Vater und sah Isabell an.
Sie lächelte in meine Richtung und um nicht unhöflich zu sein, lächelte ich zurück. Es kam mir vor, als ob sie sich schon als Gräfin fühlte, jedenfalls benahm sie sich auffallend korrekt, saß in vorbildlicher Haltung am Tisch, sagte unaufhörlich ›bitte‹ oder ›danke‹, schien nichts anderes zu tun zu haben, als ständig meinen Vater zu bedienen, was ich irgendwie als übertrieben empfand. Es wirkte unecht und aufgesetzt und ich musste unwillkürlich an Melanie denken, die eine natürliche Freundlichkeit besaß, die immer da war, egal, wo sie sich bewegte. Irgendwie fühlte ich, dass ein Kampf dieser beiden Frauen um mich entbrannte, obwohl doch nur eine davon hier war.
Nach dem Frühstück begleitete ich Kommissar Rotfux und die französischen Kriminalbeamten zum Friedhof. In ihrem Beisein sollte mein Grab geöffnet werden. Unser Familiengrab war abgesperrt und hinter dem weiß-roten Band hatte sich fast das ganze Dorf versammelt. In der ersten Reihe standen die alte Elise, Henriette und Babette und ich sah ihnen an, wie gespannt sie auf das Ergebnis der Graböffnung waren. Das Grabkreuz mit meinem Bild hatten der Küster und zwei meiner Männer bereits von seinem Sockel geschlagen. Als wir eintrafen, begannen sie damit, die schwere Grabplatte anzuheben, die über dem Sarg lag. Es war später Vormittag und recht warm für diese Zeit. Kommissar Rotfux trug nur ein hellgelbes Shirt über einer beigegrünen Bermuda. Die französischen Beamten hingegen taten ihre Arbeit in dunkelblauen Uniformen, als ob das Wetter für sie gar keine Rolle spielte.
Mit einem Brecheisen wurde die Platte angehoben, anschließend eine Stange
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