Mainfall
daruntergeschoben und schließlich die Platte langsam beiseitegewuchtet. Dann sah ich den Sarg. Dunkelbraun, stattlich, eines Grafen würdig stand er in der Gruft. Äußerlich noch gut erhalten, wenn auch die Stützfüße schon umgeknickt waren und sich seitlich im Holz Risse zeigten. Die Köpfe der Zuschauer hinter dem Absperrband reckten sich immer mehr nach vorn in Richtung des Grabes. Manche schienen ihren Körper unendlich strecken zu können. Endlich stehen sie einmal gerade, musste ich denken. Endlich nahmen sie Haltung an, all diese alten Weiber und Männer. Vorsichtig entfernte der Küster die Schrauben, die den Sargdeckel hielten. Man konnte sehen, dass das Holz schon mürbe war. Manche der Schrauben ließen sich einfach so herausziehen, bei anderen bröselte das morsche Holz weißfaserig, als der Küster sie mit dem Schraubenzieher entfernte.
Endlich war es so weit. Rotfux bat um einen Augenblick Geduld, da er noch Fotos vom Sarg im geschlossenen Zustand machen wollte. Dann hoben die Männer den Deckel ab. Ein faulender Verwesungsgeruch schlug uns entgegen. Die Frauen rissen ihre Taschentücher in die Höhe und hielten sie sich vor die Nase. Ich selbst starrte gebannt in den Sarg. Ein Skelett, über dem noch Reste von Haut und bräunlichem Fleisch hingen, war zu sehen. Ein zierliches Skelett, kleiner als ich und schmaler als ich. Unter dem Skelett lag eine Schicht aus Kies, die bräunlich glänzte.
»Könnte auch eine Frau sein«, murmelte Rotfux, der Fotos aus allen Richtungen schoss. »Die Haare waren jedenfalls länger«, stellte er fest.
Damit hatte er recht. Die Haare, welche noch ziemlich gut erhalten waren, hingen über dem fast fleischlosen Totenkopf an der Seite herunter. Es war ein scheußlicher Anblick. Ich fühlte Mitleid für diese Frau oder diesen Mann, wer auch immer das sein mochte. Wahrscheinlich fern der Heimat war die Leiche hier begraben worden, ohne einen Gruß der Angehörigen und ohne einen lieben Verwandten, der um den Verstorbenen trauerte.
»Wir werden herausfinden, wer das ist«, sagte einer der französischen Beamten. Die Überreste der Leiche und auch des Sarges wurden sorgfältig in Kisten verpackt und zum Hafen auf das Polizeiboot gebracht. Rotfux flog zusammen mit den französischen Beamten im Hubschrauber zurück.
»Ich muss wieder an die Arbeit«, verabschiedete er sich.
Isabell hingegen wollte noch bei mir auf der Insel bleiben. »Paul und Corinna werden von Ulrichs Eltern versorgt«, sagte sie. Dabei strahlte sie mich so glücklich an, dass man meinen konnte, unsere gemeinsamen Flitterwochen würden gerade beginnen.
30
Nachdem der Hubschrauber und das Polizeiboot die Insel verlassen hatten, kehrte wieder Ruhe ein.
Trotzdem lastete ein Schatten auf meiner Seele und dieser Schatten hieß Isabell. Nicht, dass ich sie nicht mochte. Nein, ganz im Gegenteil. Ich war ihr dankbar, dass sie Oskar auf die Insel gebracht hatte, und ich fand sie auch wirklich nett. Aber ich hätte gern selbst entschieden, welche Frau mit mir auf meine Insel kam. Jetzt war sie einfach ungefragt da. Und das Schlimmste dabei war: Meinem Vater und auch den Inselbewohnern schien sie zu gefallen. Alle gingen davon aus, dass sie die neue Gräfin der Île du vin werden würde.
›Zeig ihr die Strände der Halbinsel‹ oder ›Fahr mit ihr nach Monaco‹, machte mein Vater unentwegt Vorschläge. Ja, er kam sogar auf die Idee, dass Isabell Kleider und Schmuck meiner Mutter tragen könnte, da sie selbst natürlich kaum Gepäck bei sich hatte. Mir war das alles ganz und gar nicht recht. Aber ich war nicht der Typ, der seinem alten, an den Rollstuhl gefesselten Vater widersprach. Ich ließ mir nichts anmerken und unternahm tatsächlich Inselausflüge mit ihr, doch je mehr ihr glückliches Lachen sich im Schloss und auf der Halbinsel verbreitete, desto schlechter ging es mir. Da war der Gedanke an Melanie, der in meinem Herzen saß. Sie begegnete mir ständig in meinen Tagträumen. Schon im kleinen Hafen der Insel stieg sie mit mir ins Boot, wenn ich eine Ausfahrt mit Isabell machte. Nie war ich mit Isabell allein. Melanie stand an der Reling und ihr luftiges weißes Sommerkleid wehte im Wind, so wie damals, als ich mit ihr die Insel besuchte. Melanie schwamm neben mir, wenn ich mit Isabell badete, sie ging mit mir durch den Sand, wenn ich mit Isabell am Strand spazierte, und ich hörte ihre Schritte hinter mir, wenn ich mit Isabell auf steinigen Pfaden über die Insel wanderte. Mit jedem Tag wurde die
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