Mainfall
weiter mit mir unterhalten zu wollen.
»Komm, Minouche«, sagte sie zu ihrer Katze und stieß mit ihrem Filzpantoffel gegen sie. »Wir wollen frühstücken.«
Dann zog sie die Tür hinter sich zu und war verschwunden. Ich setzte mich neben Oskar vor Melanies Tür.
»Sie lebt, Oskar, wir müssen sie finden«, murmelte ich.
Er sah mich an, als ob er alles genau verstanden hatte. Seine braunen Dackelaugen glänzten im Dämmerlicht des Treppenhauses. Ich nahm ihn auf den Arm und ging mit ihm nach unten. Die hölzernen Stufen knarrten unter meinen Schritten. Ich hörte sie gern, denn sie erinnerten mich an Melanie, die vor noch nicht allzu langer Zeit hier vor mir her gegangen war. Wann würde sie hier wieder mit mir hochgehen? Wann könnte sie ihre Krücken ablegen und ihre Halskrause, von der die Nachbarin gesprochen hatte?
Durch solche Gedanken abgelenkt, stolperte ich über den letzten Treppenabsatz, knickte um und fiel mit Oskar der Länge nach im Hauseingang hin. Oskar bellte wie ein Verrückter und ich hatte Angst, dass er verletzt sein könnte. Ich hob ihn auf und streichelte ihn, und er leckte mir die Wange, um mir seine Zuneigung zu zeigen. Dann versuchte ich selbst aufzustehen. Ein stechender Schmerz fuhr mir durchs linke Fußgelenk. Langsam humpelte ich mit Oskar hinaus auf den Quai des Bateliers.
Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel. Die Ausflugsschiffe hatten begonnen, ihre Runden zu drehen, und ich ging zurück zum Maison Kammerzell. Gehen konnte man es fast nicht nennen. Oskar zog mich mit der Leine vorwärts und ich schleppte mich hinter ihm her. Mein linkes Fußgelenk schmerzte bei jedem Schritt und trieb mir fast die Tränen in die Augen. Ich war froh, als wir den Münsterplatz erreichten und ließ mich auf einen der Stühle sinken, die vor dem Maison Kammerzell in der Sonne aufgestellt waren. Wie sollte ich Melanie in diesem Zustand finden? Mit meinem kaputten Fuß konnte ich nicht einmal das Münster besteigen.
Zunächst frühstückte ich in der Sonne, was mich meine Schmerzen ein wenig vergessen ließ. Nach dem Frühstück wollte ich auf mein Zimmer gehen, aber ich schaffte es mit meinem verletzten Gelenk nicht. Die Wendeltreppe war zu steil, zumal ich Oskar auf dem Arm hatte. Entnervt gab ich auf und ließ mich vom Wirt zur Universitätsklinik bringen, die zum Glück gar nicht weit entfernt war.
Notaufnahme, Formulare, Röntgen, Gott sei Dank nichts gebrochen, nur verstaucht, Salbenverband, elastische Binde – zwei Stunden verbrachte ich in der Klinik, bis ich humpelnd und an zwei Krücken das Gebäude wieder verließ.
›Sie müssen das Gelenk schonen, sollten am besten viel liegen‹, hatte mir der Arzt geraten und ich fragte mich, wie es nun weitergehen sollte.
Auf dem Weg zum Ausgang der Klinik kam mir Professor Ducrot entgegen. Ich erinnerte mich an meinen Badeunfall in Obernai und wäre am liebsten im Boden versunken, so peinlich war mir meine damalige Flucht aus dem Krankenhaus. Der Professor erkannte mich sofort.
»Nanu, Sie wieder hier?«, rief er überrascht. »Ich dachte, Sie sind über alle Berge.«
Ich zuckte unwillkürlich zusammen. »Das ist eine längere Geschichte, Herr Professor«, antwortete ich betont höflich, als ob ich mich für meine Flucht auf diese Art nachträglich entschuldigen könnte. »Ich musste einfach fliehen. Ich musste unbedingt etwas herausfinden.«
Der Professor, der mich fast um einen Kopf überragte, sah mich durch die Gläser seiner Nickelbrille interessiert an. »Und? Haben Sie es herausgefunden?«
»Ja«, verkündete ich, »ich weiß jetzt wieder, wer ich bin und wo ich herkomme.«
»Ist ja eine unglaubliche Geschichte«, sagte Ducrot. »Kommen Sie, das müssen Sie mir genauer erzählen. Ich wollte sowieso gerade Pause machen.«
Ich wunderte mich, dass er sich so viel Zeit für mich nahm, und humpelte mit meinen Krücken mit ihm zur Cafeteria. Dort erzählte ich ihm bei einem Sandwich und einem Mineralwasser meine Geschichte und er lauschte gebannt. Irgendwann redete er mich mit Herr Graf an und ich merkte, dass ich offensichtlich in seiner Achtung gestiegen war, seit er wusste, dass ich der Graf der Île du vin war. Zum Schluss erzählte ich ihm, dass ich Melanie suche, und sah ihn hoffnungsvoll an.
»Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht dabei helfen, Herr Professor«, sagte ich. »Vermutlich war sie hier in der Universitätsklinik in Behandlung.«
Ich war plötzlich sehr froh, Professor Ducrot getroffen zu haben, und begriff,
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