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Mainfall

Mainfall

Titel: Mainfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Woelm
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für das Schloss und die Stadt wird. Ich habe mit der Schlösserverwaltung vereinbart, dass wir gleich im Januar mit der Aktion starten können.«
     
    Am Abend zeigte ich den Ausweis Isabell.
    »Toll!«, freute sie sich. »Jetzt bist du wieder wer.«
    Sie verstand sich gut mit mir und manchmal wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie mich gern gegen ihren Ulrich eingetauscht hätte. Sie schien sehr stolz darauf zu sein, dass ich beim Jubiläum im Schloss auftreten würde, als König und als Geschichtenerzähler.
    Für einen Moment vergaß ich meine verlorene Vergangenheit und lebte nur noch in der Zukunft. Ich sah mich in königlicher Robe durch das Schloss schreiten, sah die großen Augen der Kinder, die meine Krone bewunderten, und ihre offenen Münder und ihre gespitzten Ohren, wenn sie meinen Geschichten lauschten.
     
    Zunächst kam Weihnachten. Die Innenstadt von Aschaffenburg war festlich beleuchtet, über den Gassen der Altstadt hingen Sternenlichter, die Straßennamen waren mit Lichterketten in den Abendhimmel geschrieben, aus allen Schaufenstern strahlte bunte Weihnachtsdekoration. Vor den Kreuzungen und Kreisverkehren stauten sich die Autos, die Menschen strömten in die Stadt, um das Fest vorzubereiten.
    Ich kam mir sehr einsam vor, als ich das Treiben beobachtete. Da kauften und schleppten sie, da hasteten sie durch die Gassen, um noch etwas für den Papa oder die Mama oder die Kinder zu kaufen, nur ich hatte keine Menschenseele, welche diese Anstrengung wert war. Gewiss, ich würde natürlich Paul und Corinna etwas schenken und auch Isabell und Ulrich, aber das war etwas anderes.
    So gern hätte ich gewusst, ob nicht irgendwo auf dieser Welt eine Frau saß, die auf ein Geschenk von mir wartete, oder ein Kind, das mit pochendem Herzen und großen, strahlenden Augen unter den Weihnachtsbaum blicken würde, ob dort etwas von mir läge. Doch da war nichts. Mein Hirn war nach wie vor leer. Keine Erinnerung an Kinderaugen, an jauchzendes Kinderlachen, an ein greifendes Händchen, das meinen Finger umklammerte, an einen kleinen Mund, der seine Freude hinausschrie.
    Ich war jetzt der König von Aschaffenburg und als König musste man wohl einsam sein zu Weihnachten. Zwar hatte ich gut zu tun. Fast jeden Abend wurde ich irgendwo als Babysitter verlangt, da sich Gänseessen und Weihnachtsfeiern häuften und man froh war, wenn ich die Kinder mit meinen Geschichten unterhielt. Aber manchmal machte es mich traurig, den fremden Kindern Geschichten zu erzählen und nicht zu wissen, ob ich vielleicht auch eigene hatte.
    Der erste Schnee fiel. Zunächst nur wenig, sodass die Bäume überzuckert wurden und die Dächer einen weißen Schleier erhielten. Dagegen schneite es eine Woche vor dem Heiligen Abend so stark, dass sich schon bald die Schneeberge am Straßenrand türmten und die Leute alle Mühe hatten, die Gehwege freizuhalten.
    Drei Tage vor Heiligabend erhielt Isabell die Nachricht, dass Ulrich über Weihnachten nach Hause kommen würde, um bei seiner Familie zu sein.
    »Wir brauchen jetzt doch einen Weihnachtsbaum, wenn er kommt«, sagte sie und bat mich, ihr beim Kauf und beim Aufstellen behilflich zu sein.
    Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte. Einerseits fand ich es schön, dass Ulrich über Weihnachten bei seinen Kindern war, andererseits fühlte ich mich unwohl, wie ein ungebetener Gast in dieser eigentlich fremden Familie, in der ich dadurch noch mehr zum Eindringling wurde.
     
    Endlich war es so weit. Sie brachten Ulrich mit einem Krankenwagen vor sein Haus. Wie eine Entlassung kam mir seine Ankunft nicht vor, eher wie der Hafturlaub eines Todeskandidaten. Von zwei Sanitätern gestützt, kam er mir über den Plattenweg am Eingang entgegen, langsam, mit schlurfenden Schritten, in seinen Winterstiefeln, die viel zu locker an seinen abgemagerten Füßen hingen. Neben ihm schoben sie ein fahrbares Gestell, an dem eine Infusionsflasche glänzend in der Wintersonne baumelte. Langsam ging es voran, Stück für Stück bis zur Haustür.
    Für einen kurzen Augenblick erinnerte ich mich an unsere erste Begegnung im Park des Klinikums. Damals war er noch viel kräftiger gewesen, hatte seinen Rollator selbst durch den Park geschoben, aber heute? Ein Gerippe kam mir entgegen, mit einem aufgeblähten Bauch, der sich wie eine pralle Kugel unter seinem Bademantel wölbte.
    »Hallo, Johann«, begrüßte er mich. »Du siehst, ich habe es geschafft.« Seine Augen strahlten. »So sehr habe ich es mir

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