Mainfall
kleine Paul wurde sofort hellhörig.
Wenig später kamen die beiden mit einer großen Tasche voller Geschenke ins Wohnzimmer und Paul half seinem Opa, die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum zu verteilen. An das Christkind glaubten sie schon eine Weile nicht mehr. Endlich hatte alles seinen Platz gefunden und nun waren die Kinder nicht mehr zu halten.
»Bescherung, Bescherung«, rief der kleine Paul und raste wie ein Wirbelwind durchs Wohnzimmer.
»Zuerst will uns aber Corinna noch etwas auf dem Klavier spielen«, sagte Isabell.
»Und danach lese ich die Weihnachtsgeschichte«, fügte Ulrich hinzu.
Ich wusste, dass ich die Weihnachtsgeschichte kannte, wenn ich auch nicht sagen konnte, woher. Als Ulrich zu lesen begann, wurde es ganz still im Wohnzimmer. Die Kerzen am Weihnachtsbaum brannten schon, die Gesichter der ganzen Familie waren in ein sanftes Licht getaucht, Isabell saß neben Ulrich und hatte ihre Hand in die seine gelegt, seine Mutter sah ihn unentwegt an, nur Paul schielte hin und wieder zu den Geschenken unter dem Weihnachtsbaum. Als anschließend Weihnachtslieder gesungen wurden, war es mit der Geduld des kleinen Paul völlig vorbei. Er sang nur stellenweise mit und teilweise auch verkehrt. Ulrich zwinkerte mir zu und ich wusste, was das bedeutete.
Mit einem Satz stürzte Paul sich auf die Geschenke. Er zog die Pakete unter dem Christbaum hervor, las die kleinen Zettelchen, die an den meisten befestigt waren, und trug die Geschenke zu den Empfängern. Am meisten freute er sich natürlich, wenn er etwas für sich selbst fand. In diesem Fall stockte die Verteilung und alle sahen zu, wie er auspackte.
Draußen vor der Tür war es inzwischen ganz dunkel. Man hörte die Glocken in der Stadt läuten. Isabell öffnete das Fenster und alle lauschten.
Ja, das war Weihnachten! Das kannte ich. Die Weihnachtsgeschichte, die Glocken, die strahlenden Kinderaugen, das hatte ich alles schon erlebt. Aber wo? Und mit wem? Wo fehlte ich? Wer vermisste mich?
Irgendwann beschlich mich das Gefühl, mich verabschieden zu müssen. »Sie wollen jetzt sicher noch etwas unter sich sein«, sagte ich und erhob mich.
»Wieso? Du störst doch niemanden«, widersprach Ulrich. »Du gehörst doch schon so gut wie zur Familie.«
Als er das ausgesprochen hatte, schaute mich seine Mutter seltsam an und auch Isabell warf mir einen verschämten Blick zu.
»Ich würde aber gern etwas frische Luft schnappen und außerdem muss Oskar raus«, blieb ich standhaft. »Ich komme ja anschließend wieder.«
8
Ich war erleichtert, dass Ulrich nicht vor Weihnachten gestorben war. Ich besuchte ihn daraufhin häufiger. Wir sprachen über das Leben und das Sterben, und es kam mir vor, als ob er mich nun dringend brauchte. Er erzählte mir von seinen Träumen, von denen er viele aufgegeben hatte, wegen Isabell und wegen der Kinder. Reisen hatte er wollen, Amerika sehen, am Rand des Grand Canyon stehen, aber daraus war nichts mehr geworden, die Krankheit hatte zugepackt, ihm seine letzten Träume geraubt, und jetzt war er froh über jeden Tag, der ihm noch geschenkt wurde. Ende Dezember sprachen wir über meine neue Aufgabe als König von Aschaffenburg.
»Du wirst das sicher prima machen«, sprach Ulrich mir Mut zu. »Wie gern wäre ich dabei.« Er stellte sich vor, wie ich mit purpurrotem Umhang und Krone aussehen würde und freute sich für mich.
Mein erster Auftritt als König lief tatsächlich besser, als ich gedacht hatte. Der Oberbürgermeister ließ es sich nicht nehmen, mich feierlich in der Schlosskirche zu krönen. Die örtliche Presse war versammelt. Die Orgel spielte. Ich schritt im purpurroten Umhang zwischen den voll besetzten Bankreihen auf den Altar zu, kniete vor dem Kreuz des Herrn nieder, sprach in der Stille ein Gebet und empfing aus der Hand des Oberbürgermeisters die Krone. Die Kinder saßen mit offenen Mündern da und verfolgten die Zeremonie.
Nach der Krönung bestieg ich die reich verzierte Kanzel der Schlosskirche und erzählte den Kindern mehrere Geschichten. Mucksmäuschenstill war es, als ich mit meinen Worten einen wundersamen Zwerg lebendig werden ließ, einen Freund der Kinder, der zu allerlei Streichen aufgelegt war.
Tags darauf erschien ein ganzseitiger Bericht im Main-Echo. Meine Geschichten seien sehr spannend und die ganze Aktion ein voller Erfolg, konnte man lesen.
So hielt ich von da an jeden Sonntag Audienz im Aschaffenburger Schloss. Bald war ich in der ganzen Region als Geschichtenerzähler
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