Mainfall
dieser Boxen gekühlt wurde, wie man sie aus Krimis kannte, zugedeckt mit einem weißen Tuch und mit einem Namensschild an der großen Zehe.
»Hallo«, hörte ich es wieder. Irgendwie wurde mir die Sache langsam unheimlich. Ich konnte mich nicht erinnern, mit Toten gesprochen zu haben, aber dieser hier wollte offensichtlich keine Ruhe geben.
»Hallo«, sagte ich also nochmals.
»Versprich es mir«, forderte die Stimme leise.
Es kam mir vor, als ob der Vorhang sich wie durch einen Luftzug bewegt hatte, obwohl ich sonst nichts sehen konnte.
Dieses ›Versprich es mir‹ konnte nur von Ulrich stammen. Ich war sicher, dass er hier war, und zog darum meine Zudecke bis zum Hals, denn ich begann mich zu fürchten.
»Wo steckst du?«, fragte ich in die Dunkelheit.
»Kannst du mich nicht sehen?«, fragte die Stimme leise. »Ich stehe direkt neben deinem Bett. Streck die Hand heraus, dann werde ich dich berühren.«
Meine Hand war plötzlich schwer wie Blei. Ich versuchte sie zu bewegen, aber es ging nicht. Wie erstarrt lag ich im Bett und lauschte.
Oskar schlief seelenruhig weiter, was mich daran zweifeln ließ, ob Ulrich tatsächlich im Raum war. Normalerweise hätte der Hund angeschlagen, wenn irgendetwas Ungewöhnliches im Zimmer gewesen wäre.
»Ich kann meine Hand nicht ausstrecken«, flüsterte ich. Eigentlich wollte ich gar nicht flüstern, sondern laut und deutlich sprechen, doch es ging nicht. Wahrscheinlich wollte ich die Totenruhe nicht stören und begann deshalb zu flüstern.
»Ich werde deine Stirn berühren«, hörte ich jetzt Ulrichs Stimme.
»Nein, bitte nicht«, brach es aus mir heraus. Ich hatte auf einmal höllische Angst vor der Berührung, obwohl ich mir das heute nicht mehr erklären kann. Meine Angst war so groß, dass ich mich unter der Bettdecke verkroch.
»Versprich es mir«, hörte ich wieder die Stimme.
»Ja, ja, ja, ich verspreche es!«, schrie ich. Diesmal klang meine Stimme laut und deutlich, vielleicht weil ich unter der Bettdecke mir fast selbst in die Ohren brüllte.
»Danke«, hörte ich Ulrichs Stimme. Dann war es mir, als ob der Fensterflügel schlug, es knackte wieder vor dem Fenster und endlich war es ganz still. Langsam kam ich zu mir, konnte meinen Arm wieder bewegen, schob den Kopf wieder unter der Bettdecke hervor und sah um mich.
Oskar lag wie ein kleiner Hundeengel in seinem Körbchen. Seine Brust hob und senkte sich und er schien tief zu schlafen. Die Straßenlaternen waren inzwischen erloschen, der Fenstervorhang bewegte sich leicht im Wind und sah im fahlen Mondlicht noch durchsichtiger aus als sonst.
Es hat ihm keine Ruhe gelassen, dachte ich. Er war in der Nacht seines Todes zu mir gekommen, ausgerechnet zu mir, dem Namenlosen, und hatte mir nochmals das Versprechen abgenommen. Ich lag noch lange wach, achtete auf jedes Geräusch, dachte, dass es dumm war, sich unter der Bettdecke zu verkriechen, nahm mir vor, ihm bei nächster Gelegenheit mutig entgegenzutreten, aber es gab keine nächste Gelegenheit, alles blieb still.
Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, aber ich träumte die ganze Nacht wirres Zeug. Mal sah ich Ulrich mit Melanie in Straßburg, mal lag ich im Sarg in der Stiftskirche und Ulrich stand davor, mal schritt ich als König durch das Aschaffenburger Schloss, aber nicht die Kinder lauschten meinen Geschichten, sondern hässlich klappernde Skelette aus der Unterwelt. Schweißgebadet und gerädert wachte ich morgens auf. Ich machte mich schnell frisch und wollte mit Oskar Gassi gehen. Als mir Isabell mit verweinten Augen auf dem Flur begegnete, wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
»Ich muss gleich mit Oskar raus«, murmelte ich nur und drückte mich an ihr vorbei. Ich war erleichtert, für einen kurzen Augenblick dieses Trauerhaus verlassen zu können, und zog Oskar zum nächsten Ahornbaum, an dem er sein Bein hob und ausgiebig pinkelte.
13
Am Tag von Ulrichs Beerdigung lag ich nach einer unruhigen Nacht in meinem Bett und hörte, dass es an meiner Zimmertür klopfte.
»Hallo, Johann!«, rief Isabell.
»Ja, was gibt es?«
Oskar war jetzt auch aufgewacht und bellte. Ich öffnete die Tür einen Spalt und sah Isabell in ihrem schwarzen Kostüm vor meinem Zimmer stehen. Vorwurfsvoll sah sie mich an.
»Es ist schon spät. Du hast verschlafen«, sagte sie. »Wir müssen bald los.«
»Tut mir leid«, stammelte ich. »Ich mach mich ganz schnell fertig.«
Ich fühlte mich müde und erschöpft. Der Schlafanzug klebte mir am Körper
Weitere Kostenlose Bücher