Mainfall
tat mir im selben Augenblick unendlich leid. Ich hätte ihm augenblicklich alles versprochen. Dies war sein letzter Kampf, den er unglaublich tapfer kämpfte. Er wusste genau, was er wollte, und es war zwecklos, ihm irgendwie ausweichen zu wollen. Ich sah, dass Tränen über seine Wangen rollten. Ich sah diesen schwachen, fast schon leblosen Körper, merkte, dass er kaum noch die Zunge bewegen konnte, und schließlich sagte ich, was er hören wollte, laut und deutlich: »Ich verspreche es.« Dabei drückte ich ganz fest seine Hand.
Ich spürte den Gegendruck seiner Finger, der nur kurz anhielt. Ich hörte noch ein leises »Danke«, das als letztes Wort über seine Lippen kam. Daraufhin erschlafften seine Finger, seine Hand sank auf die Bettdecke, sein Kopf fiel zur Seite, seine letzten Tränen rollten auf sein Kissen und sein Blick war still ins Leere gerichtet.
»Mein Gott, er ist tot!«, brach Isabell in sich zusammen. »Er hatte nur auf dich gewartet. Stündlich hat er nach dir gefragt. Es war grausam.«
Ich ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Es tut mir leid, Isabell. Er hat jetzt seinen Frieden. Zum Glück kam ich noch rechtzeitig, um ihm seinen Wunsch abzunehmen.«
Ich sagte ›seinen Wunsch‹, denn so ganz sicher war ich mir noch nicht, ob es auch mein Wunsch war. Im Moment war das jedoch nebensächlich. Wir schlossen ihm gemeinsam die Augen und dabei bemerkte ich, dass er noch warm war, und ich hatte das Gefühl, dass er noch mehr lebte als tot war. Ich strich ihm übers Haar und über seine Stirn. Dann nahm ich seine Hand und sagte nochmals ganz laut in sein Ohr: »Ich verspreche es.«
Es war mir, als ob ich noch etwas Gegendruck spürte. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein. Aber ich war ziemlich sicher, dass er es noch gehört hatte, denn seine strengen Gesichtszüge entspannten sich und er sah auf einmal friedlicher aus.
Isabell stand hinter mir. Sie hatte ihre Hand auf meine Schulter gelegt.
»Wir müssen es der Stationsschwester melden«, sagte sie.
»Ja, ich kann das übernehmen«, bot ich an.
»Gut, dann bleibe ich bei ihm.«
Wir hatten wohl beide das Gefühl, ihn jetzt noch nicht allein lassen zu dürfen, und deshalb ging ich zur Stationsschwester und meldete, dass Ulrich Brenner verstorben sei, jedenfalls, dass wir das glaubten. Die Schwester benachrichtigte die Stationsärztin, die bald darauf erschien, sogar mit dem Oberarzt, der gerade zufällig auf der Station war. Der Tod wurde festgestellt. Alle sprachen Isabell das Beileid aus, die erstaunlich gefasst war, dann fuhren wir wieder zu Brenners nach Hause.
»Wie sag ich’s nur den Kindern?«, weinte Isabell auf der Rückfahrt.
»Das wird schon. Wenn du willst, werde ich dir dabei helfen«, versuchte ich sie zu trösten.
Als ich an diesem Abend endlich im Bett lag, war ich sehr müde und konnte dennoch nicht einschlafen. Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, dass Ulrich bei mir im Zimmer wäre und sich mit mir unterhalten wollte.
Ich hatte die Rollläden oben gelassen und den rechten Fensterflügel gekippt. Der leichte Wind bewegte die Vorhänge, die vom Licht der Straßenlaterne erhellt wurden. Ein Schatten huschte am Fenster vorbei. Dann knackte es, als ob jemand auf einen trockenen Zweig getreten wäre. Ich hielt den Atem an.
»Hallo!«, hörte ich es von draußen leise rufen.
Ich schlich zum Fenster, zog den Vorhang zurück und spähte in die Nacht. Doch nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Der Ahornbaum hatte mit seinem Blütenstaub eine gelbliche Puderschicht auf den parkenden Autos hinterlassen, die Zweige des Schmetterlingsflieders neben dem Gartentor bewegten sich im Wind, sonst fiel mir nichts auf. Also ließ ich den Vorhang wieder fallen und legte mich zurück ins Bett.
Oskar schlief in seinem Körbchen. Er lag auf dem Rücken und streckte alle viere von sich, was er nur tat, wenn er mit allem sehr zufrieden war.
Wahrscheinlich fange ich an zu spinnen, dachte ich. Da war niemand vor dem Fenster gewesen, also konnte da auch keine Stimme sein, und an Geister glaubte ich nun wirklich nicht. Im nächsten Augenblick hörte ich wieder das leise Rufen.
»Hallo!«, kam es wiederholt von draußen.
»Hallo!«, antwortete ich unwillkürlich.
Dann wieder Stille. Totenstille.
Ich schlich dieses Mal nicht mehr zum Fenster, sondern blieb ganz ruhig in meinem Bett liegen und lauschte. Nichts rührte sich.
Ich dachte an Ulrich, überlegte mir, ob sie ihn bereits in einen Sarg gelegt hatten oder ob er in einer
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