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Mainfall

Mainfall

Titel: Mainfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Woelm
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Mucks von sich, als ob er wusste, was passiert war. Ich nahm ihn in die Wohnung und zog die Tür hinter mir zu. Dann ging ich zum Fenster und sah nochmals hinab. Kein Lachen mehr! Kein Glück! Nur Tod und Trauer wohnten dort unten. Mein Glück wurde abtransportiert in einem Krankenwagen. Von einer Sekunde zur anderen war alles ausgelöscht, all meine Hoffnung vorbei. Was tun? Ich sah mich in der Wohnung um. Überall lag etwas von mir. Wann würden sie kommen? Wann würden sie mich befragen? Was würden sie zu meinem Ausweis sagen? Wie würde Rotfux toben, wenn er es erführe? Fragen über Fragen jagten durch mein Hirn. Und diese Fragen gaben mir alle gemeinsam nur eine Antwort: Schnell weg von hier.
    Ja, ich musste weg, bevor man mich hier fand. Ich musste weg, bevor sie mich befragten. Im Haus hatte mich niemand gesehen, also konnte ich unerkannt entwischen. Ich packte in Windeseile meine Reisetasche, nahm meinen Notizblock an mich, wischte alle Türklinken und das Waschbecken mit einem Handtuch ab, setzte Oskar oben in die Reisetasche, schloss die Fenster, zog die Wohnungstür hinter mir zu und war auf dem Weg nach unten.
    Hoffentlich begegnet mir niemand, dachte ich. Die Stufen knarrten unter dem Gewicht meiner Reisetasche. Aber ich gab jetzt nicht auf die Stufen acht, hatte keine Zeit, wollte nur fort, raus aus diesem Haus, weg von dieser Straße, weit weg von diesem Ort.
    Unten schob ich vorsichtig die Haustür auf und spähte auf die Straße. Ein Polizeiauto stand jetzt neben dem Krankenwagen, der immer noch nicht abgefahren war. Also stimmte es. Sie war tot. Ich ging unauffällig in die andere Richtung, zur Pont du Corbeau, der Brücke, die zur Altstadt führte. Nach einigen Metern ließ ich Oskar aus der Tasche. Er zog sofort an der Leine und wollte wohl zu Melanie. Nur durch ein scharfes »Bei Fuß!« konnte ich ihn dazu bringen, mich zu begleiten. Erst als ich die Pont du Corbeau überquert hatte und auf der anderen Seite des Flusses war, ließ meine Angst etwas nach. Ich ging zu einer Bank direkt am Fluss, stellte meine Reisetasche ab und setzte mich. Melanies Haus lag in der Abendsonne. Der Krankenwagen fuhr gerade ab, aber ohne Blaulicht und mit normaler Geschwindigkeit, sodass auch dies mir keine Hoffnung mehr gab. Die Polizisten befragten offensichtlich weiterhin den Fahrer des Lieferwagens. Die Menge hatte sich aufgelöst und der Verkehr floss wieder.
    Mir stiegen Tränen in die Augen. Ich konnte noch gar nicht begreifen, was passiert war. Melanie war tot, aber ich wusste in diesem Moment nicht, was das bedeutete. Oskar lag still neben mir auf der Bank. Mir war jetzt alles egal. Ich blieb einfach sitzen.
    Die letzten Ausflugsschiffe kamen zurück und machten für die Nacht fest. Spaziergänger gingen in Richtung la Petite France, doch das interessierte mich nicht. Ich glaube, es hätte der Sensenmann zu mir kommen können, der soeben meine schöne Melanie geholt hatte, und ich hätte ihm ruhig die Hand gereicht und gesagt: ›Ja, bring mich zu ihr, damit wir wieder zusammen sind.‹

19
    Als es dunkel wurde, saß ich immer noch auf meiner Bank am Ufer der Ill. Ich war unfähig, irgendetwas zu tun. Ich saß einfach nur da, sah ins Wasser und beobachtete die Passanten, die an mir vorbeizogen. Nicht einmal denken wollte ich. Ich hatte Oskar neben mich auf einen Pullover gesetzt und war froh, dass er jetzt bei mir war. Ich haderte mit meinem Schicksal.
    Gegen 22 Uhr stoppte ein Auto der Gendarmerie vor Melanies Haus. Zwei Beamte stiegen aus und gingen hinein. Es dauerte, bis ich Licht durch die Fenster der Dachgauben sah. Jetzt waren sie also dort oben, durchwühlten ihre Sachen und prüften, ob es Hinweise auf Bekannte oder Verwandte gab. Jetzt trampelten sie mit ihren schweren Stiefeln auf Oskars Bettvorleger herum, entweihten die kleine Wohnung, in der unser Glück ein Zuhause gehabt hatte. Ich konnte und wollte nicht zusehen.
    »Komm«, sagte ich zu Oskar, »unsere Zeit in Straßburg ist abgelaufen.«
    Als ob er mich verstanden hätte, stellte er sich auf seinen Pullover, machte einen runden Buckel wie eine Katze, gähnte mit weit aufgerissenem Maul, schüttelte sich kurz und sprang dann mit einem weiten Satz von der Bank auf die Uferpromenade. Ich nahm meine Reisetasche und stieg über eine steinerne Treppe hinauf zur Pont du Corbeau, zur Rabenbrücke. Ich winkte ein Taxi herbei und wir fuhren zum Bahnhof. Dort sah ich mir die Zugverbindungen an und stellte fest, dass ich die ganze Nacht unterwegs

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