Mainfall
Hügeln, ein Ententeich, eine Forellenzucht, dann wieder Fichtenwälder, dunkel in den Abendhimmel ragend, begleiteten meine Fahrt. Zuerst Würzburg, dann Nürnberg. Häuser rasten am Zug vorbei, Fabriken, Gewächshäuser, Laubwaldinseln zwischen den Wiesen.
Bei Ingolstadt brach die Abendsonne durch die dick aufgeplusterten Wolken. Die Dächer der Vorstadthäuser glänzten in der Sonne. Mir gegenüber saß eine weißhaarige Oma, mit der linken Hand den Bügel ihrer Reisetasche fest umklammernd, den Blick sinnend in die Landschaft gerichtet.
Endlich frei, dachte ich. Eine Woche hatte ich für mich, würde Venedig sehen, zusammen mit Natalie, die bereits auf mich wartete.
Mein Gegenüber packte eine Banane aus. Genüsslich biss sie ab, Stück für Stück verschwand die gelblich geriffelte Frucht in ihrem kauenden Mund. Unsicher schaute sie mich an, ob ich das Kauen hörte. Aber die ratternden Räder des Zuges übertönten alles und die Schale verschwand säuberlich in einem Papiertaschentuch und anschließend in ihrer Tasche. Oskar hatte das Ganze beobachtet. Er schleckte sich übers Maul, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass er Bananen nicht mochte.
Umsteigen in München, dann Rosenheim, Kufstein, Innsbruck, Brenner. Die Nacht hatte sich längst über die Berge gelegt. Die Alpen schienen schwarz und drohend meine Fahrt aufhalten zu wollen, aber der Nachtzug stampfte tapfer durch das Gebirge. Um halb drei nachts erreichten wir Bozen. Mein Abteil leerte sich. Neben mir lag der Streckenfahrplan mit den Stationen. Ich sah, dass die Fahrt nun über Trento, Verona, Vicenza und Padua ging. Italien bei Nacht, historische Städte, die mich nur aus der Dunkelheit mit ihren Lichtern grüßen würden. Ich versuchte, draußen etwas zu erkennen, aber es waren nur die schwarzen Umrisse der Berge zu erahnen, die sich gegen den Nachthimmel abhoben. Irgendwann muss ich beim gleichmäßigen Rattern des Zuges eingeschlafen sein.
Erst gegen halb acht kam ich wieder zu mir. Der Zug wand sich über die Brücke von Mestre, die Venedig mit dem Festland verband. Die Lagune empfing mich im Morgenlicht. Still lag sie da. Möwen kreisten über der glatten Wasserfläche oder saßen auf den Bricole, diesen hölzernen Pfählen, welche die Fahrrinnen der Schiffe begrenzten. Ich stand auf, öffnete das Abteilfenster einen Spalt und hielt mein Gesicht in den Wind. Die Morgenluft war noch kühl, ich roch das Meer, hörte ein Schiff in der Ferne tuten und dann sah ich die erste Gondel, die sich auf die Lagune hinausgewagt hatte, als ob sie mir einen guten Morgen wünschen wollte.
Oskar hatte die ganze Nacht neben mir auf meinem Pulli geschlafen, den ich für ihn auf dem Sitz ausgebreitet hatte. Jetzt stand er auf, machte einen Buckel wie eine Katze, gähnte mit weit aufgerissenem Maul und legte sich wieder hin.
»Wir müssen gleich los, alter Junge«, sagte ich zu ihm und kraulte ihn hinter den Ohren. Er streckte sich ganz lang, schloss die Augen und genoss diese morgendliche Zärtlichkeit. Wenig später fuhr der Zug in den Bahnhof Santa Lucia ein. Ob sie wohl da ist?, dachte ich. Ich hatte Natalie die Ankunftszeit des Zuges mitgeteilt und sie wollte mich direkt am Bahnsteig abholen. Irgendwie erinnerte mich das Ganze an Hamburg. Ich wusste nicht, ob ich schon einmal in Santa Lucia gewesen war, hörte die Lautsprecherdurchsagen, sah den Bahnsteig entlang und wurde fast von einer dicken italienischen Mamma umgerannt, die mit ihrem riesigen Ziehkoffer in Richtung Ausgang hastete. Sie hatte Glück, dass Oskar sie nicht in ihre kräftigen Waden biss. Ich konnte ihn noch im letzten Augenblick an der Leine zurückreißen, als er sich bellend auf sie stürzte.
»Komm! Ist alles gut«, sagte ich zu ihm. »Ich nehm dich lieber auf den Arm, nicht dass du noch von einem Koffer zerquetscht wirst.«
Ich nahm ihn hoch, und er legte seinen Kopf an meine Brust und schien froh, in Sicherheit zu sein. Die Henkel der Reisetasche schnitten mir in die Hand und mit dem Hund vor der Brust quälte ich mich in Richtung Ausgang. Der Bahnsteig leerte sich nach und nach, aber nirgendwo war Natalie zu sehen. Wo sie nur blieb?
Am Ende des Bahnsteiges setzte ich die Reisetasche ab und blickte mich suchend um. Nirgendwo war Natalie. Ich sah nochmals in alle Richtungen, konnte sie jedoch nicht entdecken. Dafür kam eine alte Frau direkt auf mich zu, in einem dunklen Kleid, das bis zum Boden reichte, und mit dunklem Kopftuch, unter dem ihre weißen Haare hervorschauten.
Weitere Kostenlose Bücher