Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
Spiel. Na gut, er hat es so gewollt. Ich stelle mich in Fechterposition:
„ En garde!“
Wir dreschen lachend aufeinander ein. Möglich, dass sich ein paar Leute gestört fühlen. Die sollen sich doch verpissen! Die meisten Gesichter, die ich am Rande meines Bewusstseins registriere, lächeln. Ich dränge Sandokan zurück. Er lehnt sich über die Reling. Ich führe gnadenlos Hieb um Hieb. Doch plötzlich taucht dieses Schlitzohr unter meinem Säbel hindurch und erwischt mich voll.
„ Eine Bauchwunde“, klage ich, falle auf die Knie und lasse den Säbel fallen. „Das schmerzhafte, langsame Ende durch Verbluten.“
Ich flehe ihn an, mich zu erlösen, als Josch auftaucht.
„ Können wir reden?“, fragt er, völlig unbeeindruckt davon, dass ich gerade im Sterben liege. Es muss ernst sein.
„ Klar“, sage ich, stehe auf und drücke meinen Säbel einem kleinen Mädchen in die Hand, das uns mit großen Augen beobachtet.
„ Har!“, macht Sandokan und greift sie an. Ganz vorsichtig.
Josch und ich gehen ein paar Schritte.
Er druckst herum, aber dann:
„ Aura möchte, dass ich bei ihr bleibe.“
Ich bin überrascht.
„ Ist ja super!“, sage ich. „Ist sie deine Freundin?“
„ Ich glaube schon“, grinst er verlegen. Anscheinend steht mir die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.
„ Echt, Nori“, erklärt Josch. „Das ist alles total cool. Die Reise. Bettina. Du. Ich finde es spitze, dass wir Kumpel geworden sind. Aber ehrlich gesagt: Ich glaube dir kein Wort!“
Das erwischt mich eiskalt.
„ Wieso bist du dann mitgefahren?“ Ich versuche, nicht so enttäuscht zu klingen, wie ich bin.
„ Weil ich keine Freunde hatte, nicht einen einzigen, als du bei mir aufgetaucht bist. Ich dachte sofort, dass du sie nicht mehr alle hast. Aber es war mir egal. Weil ich dich mag.“
Jetzt wird es mir zu viel.
„ Du denkst, ich bin irre?“
Josch holt tief Luft, bevor er antwortet:
„ Seit meine Eltern sich getrennt haben, bekomme ich Tabletten. Bin überhaupt nicht klargekommen mit der Scheiße. Wollte nicht mehr aus meinem Zimmer. Wollte niemanden sehen, nicht mehr sprechen.“
Ich verstehe, worauf er hinaus will.
„ Ich bin nicht krank. Nicht so“, erwidere ich. Darauf geht er nicht ein.
„ Ich meine, du hast Bettina. Aura ist ein Volltreffer. Lass es gut sein, Nori.“
„ Alles klar“, raune ich, und lasse ihn stehen.
Ich habe Angst, wieder in mein Versteck zu steigen. Zip verspricht mir, dass es ganz schnell gehen wird. Nur vom Schiff runter. Er arrangiert es so, das ich die Bank von unten öffnen kann. Für den Notfall. Diesmal sehe ich nur Josch in der Dunkelheit. Wie er immer kleiner wird und verschwindet. Wie alles Gute in meinem Leben immer irgendwann verschwindet.
Geschafft!
Welcome to Great Britain
.
Medley empfängt mich mit
We are the world
, als ich aus dem Versteck steige. Wir klatschen uns ab und gratulieren uns zum gelungenen Menschenschmuggel.
Ich übernehme den Gesangspart von Huey Lewis, Bettina den von Cyndie Lauper. Flow ist ein wirklich guter Michael Jackson, aber Sandokan scheitert an Stevie Wonder. Josch sitzt mit Aura vorn bei Wick und dreht uns den Rücken zu.
Der Verkehr stockt, kommt aber nicht völlig zum Stillstand. Tausende haben das gleiche Ziel. Wir jubeln, wenn sie Banner mit dem
Live-Aid-Logo
aus dem Fenster halten; der afrikanische Kontinent als Korpus einer Gitarre.
Feed the World
steht auf selbst genähten Fahnen, die im Wind wehen. Ein nicht enden wollendes Hupkonzert. Natürlich streckt Zip zwischendurch seinen nackten Hintern aus dem Fenster. Die Jungs essen Kekse, Bettina und ich lehnen dankend ab. Ich bin Teil eines wundervollen Ganzen. Wer braucht da Drogen? So euphorisiert kommt mir meine Aufgabe vor wie ein Kinderspiel.
Wir staunen mit offenen Mündern, als das Wembley Stadion am Horizont auftaucht. Ein erhabener Bau. Wie ein abgestürztes UFO aus
Independence Day
liegt es da. Der Eingang wird von zwei weißen Türmen flankiert. Ich lache, umarme Bettina und küsse sie. Dort liegt mein Heiliger Gral, mein Schatz, meine Bundeslade und mein Gelobtes Land. Und Bettina ist hier, bei mir.
Die Straße wird gesperrt.
„ Alle Parkplätze am Stadion sind voll“, weiß jemand aus dem Nachbarauto. Wie eine Karawane biegen wir langsam von der Hauptstraße ab in einen gewaltigen Stau. Egal! Wir singen und verbrüdern uns mit jedem, der vorbei kommt.
Ein paar Stunden später finden wir uns in einer typisch englischen Wohngegend wieder.
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