Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
versuche, an
etwas anderes zu denken. Aber eine böse Ahnung macht sich breit. Ist mir die
Bestie gefolgt? Hat sie sich an meine Fersen geheftet – unbemerkt, rückwärts
durch die Zeit?
Da kriecht etwas durch die
Grünanlage vor dem Kindergarten. Es scheint formlos und schwarz. Ich erstarre.
Eine Gruppe Kinder geht dicht hinter mir. Sie reden miteinander und lachen. Sie
lachen mich aus! Ich kontrolliere verstohlen, ob alles mit meiner Kleidung in
Ordnung ist, mit meiner Frisur. Und in diesem unachtsamen Moment springt die
Bestie mich an. Es ist nur ein kurzes Kribbeln, wo sie mir die Beine rauf
kriecht wie eine Assel. Ich stöhne auf, als sie ihre Klauen in meinen Rücken
schlägt, und sich wie eine Schlinge um meinen Hals legt. Sie schnürt mir die
Luft ab. Mein Herzschlag beschleunigt und der Schweiß schießt mir aus den
Poren. Ich täusche vor, etwas in meinem Rucksack zu suchen, damit die Kinder an
mir vorbei gehen. Als ich allein bin, beginnt der Kampf. Ich keuche, und mein
verkrampfter Brustkorb weigert sich, die Luft in meine Lungen strömen zu
lassen. Hau ab! Bitte! Mein Herz will mir aus der Brust springen. Es pocht so
laut. Adrenalin pumpt durch meine Adern, wappnet mich gegen einen Angreifer,
vor dem ich nicht fliehen kann. Warnt mich vor einer Gefahr, die es nur in mir
selbst gibt. Sinne, dazu da, mich vor Bedrohung zu schützen, schlagen sinnlos
Alarm und verbrennen alle Energien. Meine irregeleitete Wahrnehmung wird grenzenlos.
Nichts entgeht mir, was nicht da ist. Ich spüre den leisesten Luftzug, höre
den Rhythmus der Flügelschläge der Eintagsfliegen bei den Teichen. Sehe durch
Mauern, durch Stein und Metall. Rieche den kosmischen Plan. Erkenne die Absicht
hinter der Schöpfung. Vergesse all das wieder beim Ringen nach Luft.
Es dauert einen langen Augenblick,
einen quälend gedehnten Moment, dann bekomme ich die Bestie zu fassen. Es
kostet so viel Kraft! Sie windet sich, quiekt wie ein Schwein auf der
Schlachtbank, aber es nützt ihr nichts. Ich zerre sie mit aller Gewalt von mir
und werfe sie in den Dreck. Sie wird formlos und verschmilzt mit den Schatten.
Ich setze mich auf eine niedrige Mauer, um wieder zu mir zu kommen.
„Wieder bei Atem gehe ich zurück
nach Hause. Hier ist es noch immer still. Ich schließe mich im Bad ein und
heule“, endet Nori.
„Das müssen Sie mir erläutern“,
bittet Braun.
„Was gibt’s denn da zu erläutern“,
blafft Nori.
Braun zuckt unmerklich, fasst sich
aber schnell wieder.
„Ich habe eine Angststörung.“ Noris
Ton ist fast entschuldigend. Er verschränkt die Arme vor der Brust und dreht
den Kopf zur Wand, wie beleidigte Kinder es tun. Braun setzt den Stift an, um
sich Notizen zu machen, lässt es dann aber. Nori spricht weiter.
„Gelegentliche Panikattacken. Okay?
Nichts Besonderes.“
Braun merkt, dass er auf Granit
beißt, wenn er das Thema weiter vertieft.
„Okay“, lenkt er ein. „Erzählen Sie
doch bitte weiter.“
Ich treffe den Dicken, als ich zum
zweiten Mal das Haus verlasse. Die Ablenkung ist mir willkommen. Martin ist
anders, wenn man allein mit ihm ist. Entspannter. Oder liegt das an mir? Wir
laufen Seite an Seite, seine Krücken schleifen über den Asphalt.
Meinen Tanz gestern fand er cool:
„Hätte ich dir gar nicht zugetraut,
dass du so abgehen kannst.“
Ich mir auch nicht, aber das
behalte ich für mich und grinse. Er fand das Fernsehprogramm gestern auch zum
Kotzen und hat sich ein Video reingezogen. Wir biegen auf die Straße, an der
die Schule liegt. Kinder, soweit das Auge reicht. Mit Martin gelingt es mir
leicht, den Schulhof zu betreten. Die Kleinen, die Fünftklässler, spielen
Fangen. Sie rennen durcheinander und machen Lärm. Die Großen, neunte Klasse
aufwärts, stehen beisammen, reden, tauschen unter der Hand die Hausaufgaben
oder Zigaretten. Irgendwo dazwischen, im luftleeren Raum zwischen Kindheit und
Erwachsensein, wir. Einer der Kleinen kommt uns zu nah. Er flüchtet lachend vor
seinen Freunden, schaut nicht, wo er hinrennt und prallt gegen mich. Sein
Lachen verstummt, und er schaut erschrocken zu mir auf.
Ich will gerade „Macht nix“ sagen,
aber Martin ist schneller.
„Pass doch auf, du Zwerg!“ Er packt
den Kleinen am Kragen und schleudert ihn zu Boden.
So macht man das? Na gut.
Wir überqueren den Schulhof. Ich
bin nervös, halte meinen Blick gesenkt, um nicht von der Welle der Eindrücke
weggespült zu werden. Vorm Haupteingang in dem überdachten, rot gekachelten
Bereich, wo wir
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